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Essentialismus

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Das Konzept des Essentialismus beschreibt die Annahme, dass Menschen und Dinge eine fixe Essenz haben – eine Sammlung an unveränderbaren Eigenschaften, die sie zu dem machen, was sie sind. Essentialistisches Denken bezieht sich also auf eine Reihe von grundlegenden Aussagen über die Beschaffenheit von Dingen, Menschen und der Welt. Oft bezieht sich essentialistisches Denken auf die Vorstellungen, dass soziale Kategorien, wie z.B. Geschlecht, Hautfarbe oder Religion, eine Menge von Individuen mit einer bestimmten Essenz umfassen. Diese  besitzen scheinbar "natürliche" Eigenschaften, die ihr Verhalten bestimmen. Dementsprechend werden Menschen diese sozialen Kategorien zugeschrieben und diese dann als ähnlich betrachtet, mit einheitlichen physischen oder kulturellen Merkmalen.
Die Realität ist jedoch komplexer, als es diese Perspektive auf die Dinge zulässt. Der Essentialismus ist hier ein nützliches Konzept, um darüber nachzudenken, welche Eigenschaften bei der Charakterisierung einer bestimmten sozialen Kategorie als "natürlich" zugeschrieben werden. Zum Beispiel erzeugen essentialistische Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten und Rollen in ihrer Folge Stereotypen von "Jungen" und "Mädchen", welche als stabile Kategorien mit festen und wesentlich unterschiedlichen Eigenschaften gelten. Wir sehen dies in scheinbar harmlosen Aussagen wie - "Mädchen können nicht rechnen" oder "Jungen sind eben so". Weiterhin ist Essentialismus ist auch geeignet, um über die Formen von Wissen und Fähigkeiten nachzudenken, die als wesentlich für die Ausübung von demokratischen Staatsbürgerschaft angesehen werden. Oftmals „gehören“ diese eher zu einer dominanten gesellschaftlichen Gruppe. So finden Zuschreibungen statt, welche es an beispielsweise "Kultur" festmachen, dass es an der richtigen Art von Eigenschaften fehlt, um wirklich „dazu“ gehören zu können. Wenn einige Kinder aufgrund ihrer angeborenen "kulturellen" als unbelehrbar angesehen werden, geben Lehrer*innen möglicherweise den Versuch auf, alle Kinder gleichermaßen zu fördern.

Historischer Kontext

Essentialistisches Denken hat eine lange und vielschichtige Geschichte in der Philosophie als auch in der Wissenschaft generell. Es bezieht sich auf Ideen, die in Debatten über die Beziehung zwischen Kultur und "Natur" oder Biologie wurzeln. In biologischen Begriffen definiert, wird eine "Essenz" vorausgesetzt und ist gleichzeitig voller vorgefertigter Annahmen über die kulturellen Merkmale, die eine menschliche Gruppe besitzt und die für ihre Identität wesentlich sind. Der Begriff der Essenz war somit immer eng mit dem "Sein" verwandt. Er betrifft die besondere Natur einer Person oder einer Sache, die sie von allem anderen unterscheidet. Problematisch an diesem Transfer von biologistischem Denken auf Menschen ist die Annahme, dass sich die Eigenschaften von Menschen eher aus der Natur als aus den sozialen Prägungen und gesellschaftlichen Einflüssen ableiten. Somit gehen solche Darstellungen gehen davon aus, dass die zugrunde liegenden Eigenschaften unveränderlich sind und Identität, Verhalten und Handlungen sowohl vorbestimmen als auch erklären können (Gelman 2003).
Diese Idee biologisch/physischer Merkmale zur Abgrenzung des unverwechselbaren, angeborenen Charakters einer sozialen Gruppe wurde häufig dazu verwendet, rassistische Ideologien, Nationalismus sowie den Kolonialismus zu legitimieren. Diese Denkweise unterdrückt Veränderlichkeit und geht von einem ursprünglichen Zustand des Seins aus, in der die daraus resultierenden Kategorien unveränderlich, stabil und universell sind (Brodwin 2002).
In diesem Kontext hat auch der Kulturbegriff als Mittel gedient, um essentialistische Behauptungen über die Existenz von rassischen, nationalen, geschlechtsspezifischen und anderen Eigenschaften zu untermauern. Essentialistisches Denken fördert und rechtfertigt in diesem Zusammenhang die Annahme, dass willkürliche kulturelle Unterscheidungen natürlich, unvermeidlich und fest sind (Narayan 1998). Das Prinzip des ethnischen Primordialismus, das besagt, dass "Ethnien" historisch gesehen natürlich sind, war selbst nach dem Nationalsozialismus in den 1950er und 1960er Jahren noch eine gängige Lehre, um die damaligen ethnischen und regionalen Konflikte in den Ländern des globalen Südens zu erklären. Auch in Europa wurde sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angewandt, um die Instabilität der ehemaligen sozialistischen Republiken zu erklären. 
Schon seit den frühen 1900er Jahren haben Anthropolog*innen eine kritische Haltung gegenüber essentialisierenden, d.h. fixierenden Ideologien und Denkmustern eingenommen. Ein anthropologisches Verständnis von individuellem und kollektivem menschlichen Handeln als dynamischer und komplexer Prozess steht Theorien kritisch gegenüber, die historische Einflüsse auf feste Eigenschaften von Individuen und Gruppen reduzieren. So betonen anthropologische Perspektiven vielmehr die prägende Funktion des sozialen Umfelds für Individuen (Spivak 1989, Wright 1998). In seiner bahnbrechenden Arbeit über die Konstruktion ethnischer Differenz schlug der norwegische Anthropologe Fredrik Barth vor, den Schwerpunkt von den kulturellen Eigenschaften bestimmter ethnischer Gruppen auf die Praktiken zu verlagern, die Menschen anwenden, um Ähnlichkeit oder Differenz zu schaffen (Barth 1969). Laut Barth ist es zwischen Gruppen maßgeblich, Unterschiede zu über- und Ähnlichkeiten zu unterbewerten, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. Somit existiert Ethnizität nicht im Inneren einer Gruppe, sondern findet an den Rändern als Abgrenzung zu anderen Gruppen statt.
Eine weitere wichtige Stimme war der französische Philosoph Michel Foucault (1997), der sich mit Machtverhältnissen beschäftigt hat, und wie diese Formen von Subjektivität, Wissen und Wahrheit sowohl ermöglichen als auch einschränken. Foucault verlagert traditionell philosophische Fragen von Identität, Wahrheit, Wissen, Realität und Essenz in sein Konzept der Diskursanalyse. Diskurse sind komplexe, dynamische Systeme von Praktiken, Wissen und vielfältigen Arten von Macht. Solche Diskurse erzeugen Normen und Überzeugungen, die gleichzeitig Perspektiven ermöglichen und einschränken. Seine Forschungen zu historisch spezifischen Diskursen zeigen deutlich auf, dass Fragen nach und von Verständnis von Essenzen nur innerhalb bestimmter Gesellschaften zu bestimmten Zeiten auftauchen oder sogar nur innerhalb bestimmter Gesellschaften verständlich bleiben konnten.

a) Diskussion

Im Bildungswesen äußern sich essentialistische Ideen oft in der Art und Weise, wie nationale Schulsysteme aufgebaut ist, wie Lehrer*innen mit Schüler*innen umgehen, und welche Werte, welches Wissen und welches Erbe (nicht) vermittelt werden. Nationale Lehrpläne sind oft essentialistisch in dem Sinne, dass sie sich auf die Perspektive aus der jeweiligen Gesellschaft und dem Nationalstaat beschränken. National- und Weltgeschichte, Literatur und Sozialwissenschaften werden alle aus einer nationalen Perspektive angegangen und unterrichtet. Daher durchlaufen alle Kinder, ungeachtet des lokalen Kontexts und der individuellen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Interessen, einen Lehrplan, der auf das Ziel ausgerichtet ist, sie nach den spezifischen Vorstellungen des jeweiligen Nationalstaates zu formen (Howick 1971, Null 2007, Webb 2006).
Von Lehrer*innen wird erwartet, dass sie unterrichten, und von den Schüler*innen wird erwartet, dass sie spezifische Werte erlernen. So gilt die Schule als die wichtigste Institution für die Vermittlung von Wissen und die Lehrer*innen als ihre entscheidenden Akteur*innen. Die Schüler*innen werden auf ein Funktionieren in der Gesellschaft vorbereitet, um so die Reproduktion von Gesellschaft zu gewährleisten (Bourdieu & Passeron 1971). Ziel ist, dass Schüler*innen das gesellschaftlich definierte "Wesentliche" gelernt haben, wie beispielsweise akademisches Wissen und Charakterbildung, um nachfolgend erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.
Kritiker*innen dieser pädagogischen Struktur weisen darauf hin, dass sie weitgehend lehrzentriert und autoritär ist, sowie den Schüler*innen eine passive Rolle zuschreibt. Darüber hinaus fördert sie das Entstehen und die Reproduktion eines kulturellen Essentialismus, nämlich die ethnozentrische Praxis, Gruppen von Menschen innerhalb einer Kultur oder kulturübergreifend nach wesentlichen Eigenschaften zu kategorisieren.

b) Praktisches Beispiel

In einer Studie darüber, wie Kinder essentialistische Ideen in israelischen Schulen entwickeln, zeigte Birnbaum (et. al. 2010), wie Kinder Rückschlüsse auf die eigene ethnische Zugehörigkeit ziehen. Im Hinblick auf die soziale Komplexität der israelischen Gesellschaft konzentrierte sich Birnbaum auf die Frage, inwieweit das Wissen um eine bestimmte soziale Kategorie, Rückschlüsse auf vorfindbare Eigenschaften zulässt. Insgesamt 144 Kinder nahmen an dieser Studie teil, und zwar in einer Stichprobe von 16 Kindern aus jedem der drei Milieus (säkulare Juden, orthodoxe Juden und muslimische Araber*innen) und innerhalb dieser aus drei Altersgruppen (Kindergarten, zweite Klasse und sechste Klasse). Die Mehrheit der Israelis sind säkulare Juden, während orthodoxe Juden aus religiösen und oft politischen Gründen andere Werte zum Ausdruck bringen und muslimische Araber*innen eine stark stereotypisierte und stigmatisierte Minderheit darstellen. Die Leitfrage der Studie war, ob das Bilden eines essentialistischen Selbstverständnis bei Kindern ein "Bottom-up"-Prozess ist, bei dem die Kinder lediglich eine Weltsicht adaptieren, die sie in ihrer Umwelt wahrnehmen, oder ein "Top-down"-Prozess, bei dem die Kategorien bereits in den Köpfen der Kinder verankert sind und dann in der sozialen Umwelt gesucht werden.
Die Studie bestätigte, dass innerhalb der israelischen Gesellschaft Ethnizität als die stärkste soziale Kategorie hervorsticht und somit die wirkmächtigste Essentialisierung darstellt. Weiterhin ergab sie, dass Ethnizität einen privilegierten Status hat, insbesondere unter Kindern mit einem religiösen Hintergrund. Soziale Kategorien sind besonders wirksame Auslöser einer Voreingenommenheit, die zwar für alle Kinder intuitiv ist, aber je nach dem soziokulturellen Hintergrund eines Kindes in Bezug auf bestimmte soziale Kategorien unterschiedlich vorhanden sein kann. Dementsprechend können orthodoxe jüdische Kinder in Israel ein stärker essentialistisches Weltbild im Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit haben als Kinder aus den beiden anderen Milieus. Einer der Gründe, den Birnbaum nennt, ist der Grad des Kontakts zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Kategorien, der in umgekehrter Beziehung zum Grad der Essentialisierung von sozialen Kategorien steht. Eine zentrale Rolle nehmen hier sprachliche Praktiken von Erwachsenen aus dem sozialen Umfeld der Kinder ein. Auffallend häufig orientierten sich Kinder an den jeweiligen sprachlichen Zuschreibungen und übernahmen die dahinterliegenden Kategorien.

Weiterdenken:

  • Welche Formen von essentialisierenden Konzepten oder Sichtweisen können in ihrem Bildungssystem beobachtet werden?
  • Welchen Herausforderungen sind Lehrer*innen konfrontiert, wenn sie gegen essentialisierende Sichtweisen arbeiten möchten?
  • Welche Kompetenzen und didaktischen Werkzeugen sind nötig, um  im Unterricht Essentialisierungen oder ethnozentristische Inhalte in Schulbüchern kritisch zu hinterfragen?

Stichwörter / Querverweise

Kultur, Differenz, Bildung, Klassifikationen, Ethnozentrismus

Quellen

Barth, Fr.(Ed.) (1969). Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference. Boston: Little Brown.

Birnbaum, D. (et. al.) (2010). The Development of Social Essentialism: The Case of Israeli Children’s Inferences about Jews and Arabs. Child Development, 81(3).  (757–777).

Bourdieu, P., Passeron, J.C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.

Brodwin, P., (2002). Genetics, Identity, and the Anthropology of Essentialism. Anthropological Quarterly, 75(2). (323-330).

Foucault, M. (1997) Ethics: Subjectivity and Truth. [Essential Works of Foucault, 1954-1984, Vol. 1, Edited by Paul Rabinow]. New York: New Press.

Gelman, S. A. (2003). The Essential Child: Origins of Essentialism in Everyday Thought. Oxford: Oxford University Press.

Gil-White, F. J. (2001). Are ethnic groups biological “species” to the human brain? Current Anthropology, 42. (515-554).

Howick, W. H. (1971). Philosophies of Western Education. Danville: Interstate Printers & Publishers.

Imig, D., G. & Imig, Sc., R. (2006). The teacher effectiveness movement. How 80 years of essentialist control have shaped the teacher education profession. Journal of Teacher Education, 57(2). (167-180).

Lattas, A. (1993) Essentialism, Memory and Resistance: Aboriginality and the Politics of Authenticity, Oceania, 63(3). (240–267).

Narayan, U. (1998). Essence of Culture and a Sense of History: A Feminist Critique of Cultural Essentialism. Hypatia, 13(2). (86-106). 

Null, J. W. (2007). William C. Bagley and the founding of essentialism: An untold story in American educational history. Teachers College Record, 109,(4). (1013-1055).

Ornstein, A. C., & Levine, D. U. (2003). Foundations of education. Boston: Houghton-Mifflin.

Spivak, G. (1989) ‘In a Word’. Interview with Ellen Rooney. Differences 1 (2) [Special Issue: The Essential Difference: Another Look at Essentialism]. (124–156).

Webb, L. D. (2006). The history of American education: A great American experiment. Upper Saddle River: Pearson.

Wright, S. (1998). The Politicization of ‘Culture’. Anthropology Today, 14. (7-15).

Autor*innen

Ioannis Manos (Griechenland)

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