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Feldforschung

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Warum diesen Text lesen…

Feldforschung ist die Grundlage der anthropologischen Arbeit und ihrer disziplinären Bemühungen. In der Anthropologie stellt das Feld weniger einen materiellen Ort sondern einen sozialen Raum dar, in welchem Menschen miteinander interagieren (Gupta und Ferguson 1997 in Sluka & Robbern 2012). Dieser Text wird Ihnen helfen, die verschiedenen Bedeutungen zu verstehen, die das Konzept der Feldforschung für die Anthropologie hat. Die vielleicht einfachste Art, Feldforschung zu erklären, wäre, dass sie überall dort stattfindet, wo Menschen sich bewusst mit ihrem unmittelbaren Umfeld auseinandersetzen und darüber reflektieren. Nicht nur im pädagogischen Kontext kann Feldforschung betrieben werden, um die eigene Perspektive zu wechseln. Das heißt beispielsweise um zu erforschen, wie es ist, Schüler*in zu sein, die soziale Dynamik des Klassenlebens, die Wechselwirkung mit Lehrer*innen, das Lernen im Schulalltag und vieles mehr. Dieser Text soll darstellen, was Feldforschung mit sich bringt, und Ihnen helfen, darüber nachzudenken, wie Sie Ihre Arbeit als Lehrer*in durch verschiedene Formen ethnographischer Feldforschung ergänzen können. Es wird empfohlen, dieses Konzept in Kombination mit anderen Konzepten zu lesen, z.B. mit den Konzepten der Weltgestaltung und des ethnographischen Blicks.

Historischer Kontext

Um einen Einblick in die sich wandelnden anthropologischen Auffassungen von Feldforschung zu gewinnen, kehren wir an den Anfang der anthropologischen Forschung zurück. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten Anthropolog*innen sogenannte "armchair-anthropologists", die wie viele andere Intellektuelle dieser Zeit wissenschaftliche Arbeiten aus ihren Bibliotheken heraus verfassten. In der Anthropologie beruhten diese auf Berichten, die von Missionaren, kolonialen Regierungsbeamten, Händlern und anderen Quellen von Reiseberichten gesammelt wurden. Viele frühe Anthropologen, die auf Expeditionen ins Ausland reisten, betrieben das, was man "Anthropologie von der Veranda aus" nennt, indem sie aus der Ferne beobachteten, ohne direkt am täglichen Leben und den Ereignissen teilzunehmen.
Zwei Anthropologen des frühen 20. Jahrhunderts, Bronislaw Malinowski und Franz Boas, argumentierten beide, dass die Anthropologie in direkten, langfristigen Kontakt mit den Gemeinschaften, die sie erforschten, kommen müssen, um ihre Sprache zu lernen und kulturelle Phänomene zu beobachten und zu dokumentieren, während sie sich entfalteten. Ihre Feldforschung unter den Trobriand-Inseln im Südpazifik und den amerikanischen Indigenen an der Nordwestküste der USA markierte eine neue Form von anthropologischen Ansätzen, die auch heute noch in der Anthropologie nachklingt.
Bronislaw Malinowski gilt als "Vater" einer langfristigen Feldforschung, bei der die jeweiligen Gruppen beobachtet werden. Diese ethnographische Feldtechnik, wird bis heute noch in der Anthropologie angewandt und ist als Teilnehmende Beobachtung bekannt. Diese Art der Feldforschung erfordert einen längeren Aufenthalt an einem bestimmten Ort, einem "Feld", sowie enge und sogar persönliche Beziehungen zu einer bestimmten Gruppe von Menschen, um mehr über ihre Lebensweise zu erfahren. Räumlich und sozial nah zu sein und das tägliche Leben mit seinen Gesprächspartner*innen zu teilen, ermöglicht es Anthropolog*innen, deren Welt und den Umgang mit der natürlichen und sozialen Umwelt zu erfahren. Das Anfertigen von Notizen als zentrale Methode der ethnographischen Feldforschung ist für anthropologische Arbeit nach wie vor ein unverzichtbarer Teil der Feldforschung.
Von den Anfängen der Anthropologie als Disziplin im späten 19. Jahrhundert bis zur zeitgenössischen Anthropologie haben sich die Idee und die Orte der Feldforschung stark verändert. Beispielsweise beschränken Anthropolog*innen ihre Feldforschung nicht mehr auf abgelegene, nicht-industrielle Gemeinschaften, sondern konzentrieren sich zunehmend auf alle Arten von Menschen in industriellen Kontexten. Das "Feld" ist nicht notwendigerweise mit einem bestimmten Ort verbunden, da das Feld um ein ausgewähltes Thema, eine Thematik oder ein Problem herum konstruiert wird. Der Anthropologe George Marcus (1995) hat diesen Ansatz Multi-Site-Ethnographie genannt. Neue Technologien beseitigen auch die zeitlichen und räumlichen Barrieren zwischen Anthropolog*innen und ihren Feldern, so dass die aktuelle Feldforschung nicht zwangsläufig durch räumliche Distanz eingeschränkt wird. Anthropolog*innen benutzen nun die Kombination aus dem Blick "von der Veranda" und dem Blick "vor Ort", die Gewichtung davon schwankt jedoch erheblich.

a) Diskussion

Innerhalb der Feldforschung wenden Anthropolog*innen eine breite Palette ethnographischer Feldtechniken an. Doch zunächst müssen sie sich selbst in das Feld einarbeiten, "die Einheimischen" kennen lernen, sie über ihre Forschungsziele informieren und Zugang zu ihnen erhalten. Zur Feldmethodik gehören nicht-formale Gespräche, Smalltalk und gemeinsamer Zeitvertreib, Interviews, Beobachtungen, Kartierungen und Vermessungen, das Führen von Feldnotizen und persönlichen Tagebüchern sowie die Erstellung von Verwandtschafts- oder Netzwerkdiagrammen. Das breite Spektrum der so gewonnenen Daten ermöglicht eine "dichte Beschreibung" (Geertz 1973). In der Form einer dichten Beschreibung hilft sie dem Leser, die jeweiligen Personen, Gemeinschaften und kulturellen Praktiken zu "sehen" und besser zu verstehen. Ein Merkmal der anthropologischen Arbeit ist die Länge der Zeit, die "im Feld" verbracht wird. Die Dauer der Feldforschung variiert von einigen Wochen bis hin zu mehreren Jahren, in denen mit den Menschen gelebt und gearbeitet wird, d.h. so viel wie möglich von ihrem Alltagsleben mit ihnen teilt.

Bevor Forscher*innen ins Feld geht, muss eine detaillierte Forschungsplan erstellt werden. Dies ist ein sehr intensiver und kreativer Prozess, der die Definition des Forschungsthemas, die Planung der verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses, die Kontaktaufnahme und die Reflexion über die Methodik umfasst. Es sollte betont werden, dass es zu jeder Felderfahrung gehört, festgelegte Themen, Forschungsschwerpunkte und Pläne unterwegs zu modifizieren, da die Feldarbeit auch die Anpassung an das, was im Feld erlebt, beinhaltet. Daher ist die Arbeit vor Ort mehr als nur "Datensammlung", sie ist "Learning by doing" und eine kontinuierliche Analyse. Anthropolog*innen müssen sich darüber im Klaren sein, dass von keinem noch so detailliertem Programm erwartet werden kann, dass alles so ablaufen wird (Hammersley und Atkinson 2007).

Ziel der Feldforschung ist es, eine detaillierte, beschreibende und analytische Ethnographie einer Gemeinschaft, des täglichen Lebens einer Gruppe von Menschen, bestimmter Phänomene oder Ereignisse usw. zu erstellen. Anthropolog*innen bemühen sich, eine Lebensweise so darzustellen, dass das Unbekannte vertraut oder das Vertraute ungewöhnlich wird. Ethnographie ist von Natur aus vergleichend, und eine qualitative Ethnographie ermöglicht es den Menschen, etwas über andere Sichtweisen zu erfahren und gleichzeitig Aspekte ihres eigenen Umfelds auf unterschiedliche Weise verstehen zu lernen.

Feldforschung ist ein zentraler Bestandteil des anthropologischen Wissenserwerbs. Die Arbeit im Feld beinhaltet neue Wege von Wissens, Sein und Tun durch ethnographische Begegnungen. Ethnographische Begegnung impliziert die Zusammenarbeit zwischen Anthropolog*innen und den beforschten Menschen. Nach Sluka und Robben bringt eine zeitgenössische ethnographische Methode mit sich, dass es nie ausreicht, einfach ins Feld zu gehen, sich vom eigenen Alltag zu entfernen, zu beobachten, sich zu unterhalten und Fragen zu stellen und eine detaillierte ethnographische Darstellung zu erstellen. Die Feldforschung ist weder für ein Kommen-und-Gehen-Modell konzipiert (Hamilton 2009), noch beschränkt sie sich auf die spontane Anhäufung von Wissen, das einfach "passiert", wenn wir uns dem Feld als neue und andere Erfahrung nähern. Feldforschung beinhaltet immer eine gründliche Vorbereitung, eine intensive Lektüre von methodologischer, theoretischer und ethnographischer Literatur sowie die Auswahl von Feldtechniken und methodischen Strategien (Potkonjak 2014).

Die Feldforschung wird manchmal als ein gelebter relationaler, körperlicher und psychologischer Prozess angesehen, der sowohl "außerhalb als auch innerhalb" von Anthropolog*innen und zwischen dem Anthropolog*innen und seinen beforschten Menschen, Kollegen, Professor*innen und anderen stattfindet (Spencer 2011). Die Feldforschung in der Anthropologie ist sowohl für Forscher*innen als auch für Gesprächspartner*innen emotional fordernd und intensiv (Hage 2010, Svašek 2010). Wir können diesen kurzen Rundgang mit der Vorstellung schließen, dass die Feldforschung Anthropolog*innen Erfahrungen aus erster Hand über lokale Orte und Lebensweisen vermittelt, wie Menschen über das, was vor sich geht, sprechen und ihm einen Sinn geben, und uns hilft, das Unbekannte über "den Anderen" zu verstehen (Hastrup 1995).

b) Praktisches Beispiel

Anthropolog*innen im Bereich von Bildung und Erziehung haben seit langem lokale Formen der Säuglingspflege, Kindererziehung und Initiationsriten untersucht. Die Bildungsanthropologie wurde in den 1950er Jahren in den USA etabliert, blieb aber mehrere Jahrzehnte lang ein marginaler Teilbereich der Anthropologie. Erst in den 1980er Jahren wandte sich eine größere Zahl von Anthropolog*innen dem Bildungswesen und der Feldforschung in Schulen zu. Nach Delamont und Atkinson lassen sich Ethnographien im Bildungswesen am besten beschreiben als "Forschung an und in Bildungseinrichtungen auf der Grundlage von Beobachtungen von Beforschten und/oder konstanten Aufzeichnungen des Alltagslebens in natürlich vorkommenden Umgebungen" (1995:15). In diesem Sinne können sich Forscher*innen im Bildungsbereich vor die schwierige Aufgabe gestellt sehen, vertraute, alltägliche Situationen im Klassenzimmer fremd oder ungewohnt zu machen (Delamont und Atkinson, 1995; Spindler und Spindler, 1982).

Die Erfassung des sozialen Kontexts des Lernens in einer Kombination aus quantitativen Ansätzen, ethnographischen Beobachtungen sowie das Schreiben detaillierter Feldnotizen wurde von Bildungsanthropolog*innen entwickelt und hatten viel Einfluß im Bildungsbereich. In britischen Grundschulen wurden neue Initiativen in Betracht gezogen, um die Lehrstile und den Einfluss der Lehrer*innen auf den Lernprozess zu verstehen. Das Projekt "Observational Research and Classroom Learning Evaluation - ORACLE" (1975-1980), wurde an der Pädagogischen Fakultät der Universität Leicester ins Leben gerufen. Das Projekt brachte einen ethnographischen Einblick in Unterrichtsprozesse, bei denen sich die Forscher*innen auf das Lehren und Lernen konzentrierten, während sich andere ähnliche Projekte mehr auf Lehrer und Unterricht konzentrierten (Gordon et al. 2007).

Veile Beispiele sind in einer wichtigen Publikation enthalten, die einen Einblick in die Durchführung von Feldforschung in der Bildungsanthropologie gibt. Das von Sara Delamont geschriebene Buch "Fieldwork in Educational Settings. Methods, pitfalls and perspectives" (2002) greift viele der soziologischen und anthropologischen Methodologien und Forschungen auf und beschreibt diese. Die Stärke des Buches sind die Beispiele aus der Praxis, die Leser*innen dazu inspirieren können, eigene Wege und Umsetzungen zu finden.

Weiterdenken:

  • In welchem Teil Ihrer Arbeit könnte die Feldforschung mit Ihren Schüler*innen neue Lernmethoden in Ihrer Klasse einführen?
  • Weisen Sie eine lokale oder regionale Ethnographie zu, die sich mit dem Alltagsleben im Allgemeinen befasst oder sich auf ein bestimmtes Thema konzentriert. Diskutieren Sie mit den Schüler*innen, was die Ethnographie über das Leben in der lokalen Umgebung sagen könnte. Bitten Sie die Schüler*innen, Daten aus der lokalen Ethnografie eigene Ereignisse und Themen gegenüberzustellen.

Stichwörter / Querverweise

Ethnographie, Forschung, Teilnehmende Beobachtung, Reflexivität, der Ethnographische Blick,

Quellen

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Weiterführend

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Autor*innen

Danijela Birt Katić, Jelena Kupsjak (Kroatien)

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