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Identität

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Das Konzept der Identität bezieht sich auf zwei Prozesse der Identifikation. Einerseits meint es die Art und Weise, wie Individuen sich selbst identifizieren, und andererseits auf die Art und Weise, wie sie von anderen identifiziert werden. Identität ist komplex, weil sich Menschen bei der Behauptung oder Gestaltung einer Identität auf viele verschiedene Faktoren stützen. Individuen können eine Identität auf der Grundlage von Faktoren wie religiöse Orientierung, gemeinsame Geschichte, ein Territorium, Sprache, Beruf, Familienname oder ethnische Zugehörigkeit konstruieren (Grbić Jakopović, 2014).
Klassenzimmer sind soziale Bereiche, in denen Identität für Schüler*innen, ihre Eltern und Lehrer*innen auf unterschiedliche Weise von Bedeutung ist. Durch die alltägliche Sozialität im Klassenzimmer bilden sich Identitäten sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene und werden im Alltag ausverhandelt. Lehrer*innen und Kinder gleichermaßen identifizieren sich selbst und andere, indem sie sich auf Kategorien stützen, die auf Nationalität, Ethnizität, Geschlecht, Leistung, Alter, Diagnosen, Freizeitinteressen, Nachbarschaften und Verhaltensmustern basieren. Der folgende Text gibt einen Einblick in ein anthropologisches Verständnis von Identität, die Bedeutung von Identität im schulischen Umfeld und die Entstehung von Identitäten durch Interaktion im Klassenzimmer.

Historischer Kontext

Anthropolog*innen haben Identität in ihren verschiedenen Formen als einen Prozess der Identifikation und Selbstdarstellung untersucht, der damit zu tun hat, wie Menschen sich selbst in Beziehung zu anderen Menschen verstehen. In den späten 1960er Jahren veröffentlichte der Psychologe Erik Erikson (1968) eine Arbeit über Identität, in der er argumentierte, dass Personen verschiedene Identitäten oder Rollen erlangen können, die sie von anderen in der Gruppe, der Gemeinschaft oder der Nation unterscheiden. Ericksons Arbeit inspirierte andere dazu, den Begriff Identität für Phänomene zu verwenden, die Anthropolog*innen bis dahin als "Selbst" oder "Persönlichkeit" bezeichnet und in Bezug auf Prozesse der Sozialisierung, Klassifizierung und Ethnifizierung untersucht hatten (Erikson in Golubović 2011). Eine Trennung von der "persönlichen" und der "kollektiven" Identität ist nicht möglich. Vielmehr können Menschen je nach Situation und Kontext zwischen ihnen wechseln, beispielsweise vom Vater zum Arzt oder von der Mutter zur Politikerin, je nach Umfeld (Finke & Sokefeld 2018: 2).
Identitäten sind nicht nur rein selbst gewählt, sondern werden auch von anderen zugeschrieben. Bestimmte Identitäten wie Nationalität, Herkunft und Familie werden oft schon bei der Geburt zugeschrieben. Dennoch sind diese auch kontextspezifisch: Sie werden durch soziale Interaktion reproduziert und können sich im Laufe des Lebens ändern, so kann die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Glaubensgruppe zu einer bestimmten Lebensphase mal mehr oder mal weniger wichtig sein.
Nach dem Soziologen Anthony Giddens (1993) erzeugt ein spezifisches Umfeld Varianten von Identitäten. Giddens unterscheidet zwischen traditionellen ererbten Identitäten, die von Generation zu Generation "übertragen" werden, und modernen kontextspezifischen Identitäten, die er als dynamischer und flüssiger ansieht. Für Giddens ist eine Identität eine symbolische Konstruktion, die von Menschen geschaffen und manchmal auf eine Weise genutzt wird, die an traditionelle Identitäten erinnert, die unter Bezugnahme auf Vergangenheit, Besitz, Herkunftsort oer den Berufs- oder Bildungsstatus zugeschrieben werden.
Der Historiker Anthony Smith verwendet das Konzept einer multidimensionalen Identität, um zu untersuchen, wie sich eine Identität auf eine Gruppe von Kategorien beziehen kann, die zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten stärker ausgeprägt sein können. In dieser Sichtweise von Identität werden Fragen von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und mehr miteinander zusammen gedacht (Smith 1991).
Aktuelle anthropologische Auffassungen betonen den dynamischen und fließenden Charakter von Identität als Prozess und nicht als unveränderliches Konstrukt. Dies war damals noch nicht der Fall, als Erikson den Begriff Identität erstmals einführte. Heute verschieben sich die Bedeutungen, wenn Wissenschaftler*innen aus einem breiten Spektrum von Disziplinen Identität untersuchen. Anthropolog*innen haben sich hauptsächlich auf kollektive, kulturelle, ethnische, politische, religiöse oder geschlechtsspezifische Identitäten konzentriert. Besonders wegen seiner Komplexität und Multidimensionalität in der Praxis ist Identität ein stark debattiertes, umstrittenes und widersprüchliches Konzept. Dennoch bleibt sie ein wichtiger analytischer Begriff, der uns hilft zu verstehen, wie Menschen sich selbst gestalten und in Beziehung zu anderen Menschen repräsentieren, sozial, kulturell und biologisch (Finke & Sokefeld 2018). Vermehrt wird auch Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wie Identitäten für politische Zwecke konstruiert und aufrechterhalten werden.

Diskussion

Wie aus dem vorherigen Abschnitt hervorgeht ist die menschliche Identität nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt, unveränderlich oder determiniert. Identität ist ein fortwährender und ergebnisoffener Prozess des Werdens, von der Geburt bis zum Tod; sie bildet sich während des gesamten Lebens eines Menschen und wird konstant transformiert (Božić Vrbančić 2008). Aufgrund zunehmender Mobilität im Zuge von Globalisierung, verändern sich die Identitäten, die Kinder mit in die Schule bringen und in der Schule entwickeln. In schulischen Kontexten beeinflussen pädagogische Prozesse und Bildungsaktivitäten die Konstruktion persönlicher und kultureller Identität und tragen zu ihr bei.
In seinem Buch "Soziale Identität" definiert Richard Jenkins Identität als einen Prozess des Wissens, d.h. zu wissen "wer wir sind und wer andere sind". Jenkins betont, dass es sich auch um einen Prozess handelt, der impliziert, dass "andere wissen, wer wir sind, ebenso wie wir wissen, wer sie denken, wer wir sind" (Jenkins 2008). Nach Ashton ist Identität ein Prozess der Qualifikation, der für ihn beinhaltet, wie Individuen die Welt um sich herum wahrnehmen und sich so ihren Platz in ihr schaffen, als Einzelperson oder als Mitglied einer Gemeinschaft (Ashton et al. 2004).
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu bedenken, wie der Begriff der Identität innerhalb von Gruppen gedacht wird, die sich im Schulkontext bilden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist etwas, nach dem wir alle streben und das wir im Laufe unseres Lebens oft auch relativ erfolgreich erreichen. Im Klassenzimmer sind die Schüler*innen Teil eines Kollektivs, eines Klassenzimmers, das durch die sozialen Interaktionen und des gesamten Systems namens Schule geschaffen und organisiert wird.
Ein Individuum ist im Laufe seines Lebens Teil in unzähligen Gruppen und Zusammenhängen, im Privat- und Geschäftsleben. Die Gruppen, die wir schaffen oder denen wir angehören, können formell und informell sein, besser oder schlechter organisiert, aber sie sind ein Teil unseres Lebens. In diesem Zusammenhang können wir uns fragen, warum es für Menschen wichtig ist, zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, und warum, wenn sie zu einer bestimmten Gruppe gehören, denken sie, dass es für sie als Individuen wichtig ist?
Anthony Cohen entwickelte ein Modell der Gemeinschaftszugehörigkeit (engl. communal belonging). Es geht vom Verständnis des Bedürfnis aus, in größere Zusammenhänge eingebettet zu sein. So kann die Identität von Schüler*innen im Klassenzimmer als ein Prozess verstanden werden, in dem sie Teil eines Kollektivs, einer Gruppe sind oder werden - ein Prozess des gleichzeitigen Seins und Werdens.
Insbesondere in Bezug auf den schulischen Alltag ist es wichtig zu sagen, wer wir sind, aber auch zu sagen, wer oder was wir nicht sind, um hervorzuheben, mit wem wir etwas gemeinsam haben. Wie kann dies erreicht werden? Ein hervorragendes Beispiel sind Personen- oder Familiennamen, die als eines der Kennzeichen für Identität und Familienzugehörigkeit angesehen werden. In diesem Sinne wird auch das Erlangen von Spitznamen in der Schule zu einem wichtigen Teil der Identität einer Person, der lebenslang oder zumindest während der gesamten Jugendzeit beibehalten werden kann. Auch hier können wir Jenkins erwähnen, der schreibt, dass ein Personenname individuelle Unterscheidbarkeit bedeutet, da er seinen Träger auch im Hinblick auf kollektive Ähnlichkeiten (und natürlich auch Unterschiede) positioniert (Jenkins 2008: 21).

Praktisches Beispiel

Sarah Jewett (2006) beschreibt auf der Grundlage ethnografischer Untersuchungen an einer High School in den städtischen USA die verschiedenen Arten, wie Schüler mit verschiedener Herkunft und Hautfarbe soziale Identität konstruieren. Aus der Perspektive von Verwaltungsbeamt*innen, Lehrer*innen und ihren Familien diskutiert sie die Art und Weise, wie sie an Prozessen der Konstruktion von "Schulidentitäten" teilnehmen. Anhand ethnografischer Berichte reflektiert Jewett über den Begriff der Herkunft bzw. Hautfarbe und die Art und Weise, wie die Begriffe im Kontext "gemischter" Klassenzimmer verhandelt wird. In Gesprächen mit Lehrer*innen stellte Jewett fest, dass sie Schüler*innen dazu ermutigen, über ihre Identität in verschiedenen Kontexten innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers nachzudenken. Die Lehrer waren der Meinung, dass die Verbindung zu ihren "kulturellen Wurzeln" und dem Kulturerbe der Familie und dem Finden einer Nische innerhalb der Schule den Schüler*innen hilft, ihre eigene Identität zu entwickeln und Verständnis für die Identität ihrer Klassenkameraden zu zeigen. Um diesen Prozess zu erleichtern, entwarfen die Lehrer*innen eine besondere Aufgabe zum Geschichtenerzählen. Sie ließen die Schüler Daten zu Themen wie Wohnen, Religion, Kleidung und Sprache sammeln und austauschen, um eine "Datenbank" zu erstellen, die jedem in der Klasse zur Verfügung steht. Die Idee hinter dem Projekt war es, "die Schüler*innen dazu zu bringen, ihre Ähnlichkeiten und nicht die Unterschiede in ihren Vorlieben zu erkennen" (ebd.) und die Stereotypen, die sie möglicherweise über ihre Klassenkameraden hatten, zu überwinden.
In dem Artikel "Smart, Smarter, Smartest: Competition and Linked Identities in a Danish School" (dt. Klug, klüger, am klügsten - Wettbewerb und verbundene Identitäten in einer dänischen Schule) diskutiert Ulla Lundqvist (2019) die Bildung sozialer Identität durch schulischen Erfolg und wie dies mit der Identitätsbildung unter Mitschüler*innen zusammenhängt. Lundqvist argumentiert, dass die Vorstellungen, klug, intelligent oder ein Genie zu sein, sozial gebildet sind und erst im Schulalltag in die Praxis umgesetzt werden müssen (Lundqvist 2019: 1). Auf der Grundlage ihrer ethnografischen Forschung schildert Lindquist die Geschichten von Iman (irakischer Hintergrund) und Mohsen (libanesischer Hintergrund), zwei Schülern, die in einer dänischen Grundschule in derselben Klasse eingeschrieben waren. Lindquist regt an, den Identitätsbildungsprozess dieser beiden Schüler in ihren "Kämpfen" miteinander zu verknüpfen, um zu zeigen, wie sie versuchen, die von ihren Lehrer*innen zugewiesenen Rollen "gerecht zu werden". Zunächst bevorzugten die Lehrer*innen Iman, den sie für den klügeren hielten. Im Laufe der Jahre "änderte sich etwas" und die Lehrer begannen, Mohsen die Rolle des "Klügsten in der Klasse" zuzuschreiben. Diese Veränderung wirkte sich auf ihre persönliche Beziehung aus, und sie kamen von der besten Freundschaft zu einer Situation, in der sich ihre Beziehung verschlechterte.
Um einen Prozess der verbundenen Identifikation zu verstehen und zu zeigen, wie Schüler*innen Labels aufgreifen, die auf Erfolg und Misserfolg hinweisen, verwendet Lundqvist das Konzept der Klugheit in einem eigenen Sinne. Sie argumentiert, dass die Art und Weise, wie Lehrer*innen Iman und Mohsen vergleichen, auf dem "Identitätsmodell von Klugheit" basiert, das sich die Schulen als Institutionen aneignen, um "intelligentere" und "weniger kluge" Schüler*innen hervorbringen. Somit wird Klugheit Teil der "verknüpften Identifikation" als ein zwischenmenschlichen Prozess, durch den die Identifikationsverläufe von zwei oder mehr Individuen in konfligierenden Teilnahmerahmen über die Zeit hinweg miteinander verflochten werden (ebd.: 2). Abschließend stellt Lundqvist fest, dass die Untersuchung von Prozessen verknüpfter Identifikation zwischen zwei oder mehr Individuen uns ein besseres Verständnis davon vermitteln kann, wie sich "persönliche Identitäten" verbinden und im Laufe der Zeit verändern, und dass sie zeigen kann, wie die von Lehrer*innen projizierten Etiketten "klug" und "faul" den Schüler*innen Lernmöglichkeiten eröffnen oder erschweren können (ebd.: 16).

Weiter denken

  • Eine Möglichkeit, sich und Ihre Schüler*innen mit den in der Klasse vertretenen Identitäten vertraut zu machen, besteht darin, sich auf die sprachliche Diversität, verschiedene Heimatsprachen oder lokale Dialekte zu konzentrieren. Sie könnten die Schüler*innen ermutigen, besonders wichtige Konzepte und Begriffe aus ihrem eigenen Sprachrepertoire zu teilen und zu diskutieren - ihre Sprachen und Dialekte im Unterricht zu verwenden und die Vor- und Nachteile mehrerer Sprachen und Dialekte in einem Klassenzimmer zu diskutieren.
  • Denken Sie über Ihre berufliche Identität als Lehrer*in nach und diskutieren Sie, welche Fähigkeiten und Kompetenzen diese berufliche Identität ausmachen. Vergleichen Sie dies mit einer "Schüler*innenidentität", denken Sie darüber nach und diskutieren Sie über Maßnahmen, die Sie ergreifen können, um die diese zu entwickeln.

Quellen:

Božić Vrbančić, S. (2008). "Diskurzivne teorije i pitanje europskog identiteta". Etnološka tribina 38: 9-38.

Finke, P., Sökefeld, M. (2018). Identity in Anthropology. The International Encyclopaedia of Anthropology. ed. Hilary Callan. Wiley-Blackwell.

Giddens, A. (1993). Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Polity Press.

Golubović, Z. (2011). "An Anthropological Conceptualisation of Identity". Synthesis Philosophica 51(1): 25-43.

Grbić Jakopović, J. (2014). Multipliciranje zavičaja i domovina. Hrvatska dijaspora: kronologija, destinacije i identitet. Zagreb: Filozofski fakultet.

Jenkins, R. (2008). Social Identity. Routledge.

Jewett, S. (2006). "If You Don’t Identify with Your Ancestry, You’re like a Race without a Land: Constructing Race at a Small Urban Middle School". Anthropology and Education Quarterly 37(2): 144-161.

Lundqvist, U. (2019). "Smart, Smarter, Smartest: Competition and Linked Identities in a Danish School" Anthropology & Education Quarterly 0: 1-18.

Smith, D. A. (1991). National Identity. Pinguin Books Ltd.

Autor*innen

Eni Grbić, Danijela Birt Katić, Jelena Kupsjak (Kroatien)

The European Commission support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflects the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use, which may be made of the information contained therein.

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