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Kolonialismus

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Warum diesen Text lesen…

Das Vermächtnis des europäischen Kolonialismus ist in jedem Lebensbereich zu finden, dies gilt ebenfalls für die Bildung. Die Konsequenzen und Folgen des Kolonialismus sind jedoch nicht immer als solche erkennbar, so dass der Einfluss der Kolonialzeit weit entfernt erscheinen kann. Indem die Anthropologie diese Hinterlassenschaften beleuchtet, kann sie Lehrer*innen helfen, Wege zu finden, sich für die Dekolonialisierung der Bildung einzusetzen.

Historischer Kontext

Der Kolonialismus ist eine Form von Herrschaft, ein regierendes System, welches gleichzeitig zentralisiert als auch expansiv ist. In diesem Text bezieht der Kolonialismus sich auf den Prozess der europäischen Kolonialisierung, der im 15. Jahrhundert begann und eng mit dem Imperialismus verbunden ist. Als historischer Prozess hat der europäische Kolonialismus die Welt, wie wir sie heute kennen, in sehr bedeutsamer Weise geprägt. So lässt sich ohne weiteres sagen, dass der bis heute florierende Wohlstand West-Europas eine direkte Folge von kolonialen Projekten ist.
Oft wird unterschieden zwischen Siedler-Kolonialismus, wie im Fall von Australien, den Vereinigten Staaten oder in jüngerer Zeit Israel, und Ausbeutungs-Kolonialismus, der die Ausbeutung von Land, Ressourcen, Menschen und ihrer Arbeitskraft einschließt, wie im Fall der belgischen Kolonisierung der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Diese Unterscheidungen sind jedoch nur vorläufig, da die meisten kolonialen Projekte Elemente von beidem und noch viel mehr enthalten. Wenn heutzutage oft von Postkolonialismus und Dekolonisierung sowie von Neokolonialismus die Rede ist, dann ist damit folgendes gemeint: Während sich ersteres auf die akademische Untersuchung kolonialer Projekte und ihrer Hinterlassenschaften bezieht, bezieht sich zweiteres oft auf Anstrengungen von kolonisierten Staaten in der Erlangung von nationaler Unabhängigkeit, welche insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden. Zentral ist jedoch, dass Dekolonisierung nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene zu verstehen ist, sondern auch die "Enthüllung und Demontage der kolonialen Macht in all ihren Formen" meint (Ashcroft et al. 1995: 56). Neokolonialismus bezieht sich auf die Tatsache, dass die ehemals kolonialisierten Länder zwar weitgehend ihre formale Unabhängigkeit erlangt haben, aber durch die Logik der unter der Kolonialherrschaft geschaffenen und entwickelten wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Systeme von den ehemaligen Kolonialzentren abhängig bleiben. Ein scheinbar banales Beispiel für eine koloniale Repräsentation, welches wir für selbstverständlich halten, ist jede gängige Weltkarte, auf der Europa die oberste und zentrale Position einnimmt. Neben dem Fokus auf Europa im Mittelpunkt ist es auch so, dass wen man die gängige mit einer realgetreuen Weltkarte vergleicht, so sieht man wie sehr Europa geographisch „aufgebläht“ wurde.
Um was es also geht sind Perspektiven, und bezogen auf die Entkolonialisierung der Bildung bedeutet dies, die Zentralität, Hierarchie und Fixierung aller Formen von Wissen, nicht nur des Wissens über die Kartenerstellung, in Frage zu stellen. Da koloniale Projekte und ihre Folgen in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Bereichen unserer heutigen Wissensproduktion verankert sind, haben sie besonders starke Auswirkungen auf die Bildung. Die Hinterfragung der Wissensproduktion selbst, was gedacht wird, wie und warum, bringt Einsichten darüber, wie der europäische Kolonialismus die Welt, in der wir leben und lehren, konfiguriert hat und weiterhin konfiguriert.

a) Diskussion

Anfangs ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Kolonialgeschichten durch ihre enorme Vielfalt an Formen, Wirkungen, Reaktionen, Konsequenzen und Erfahrungen gekennzeichnet sind. Es gibt unzählige Kolonialgeschichten, und im Bildungsbereich müssen Lehrende sich derer bewusst sein, die für den jeweiligen Klassenkontext von unmittelbarer Bedeutung sind. Schaut man in die Geschichte, so wird ersichtlich, dass Bildung historisch gesehen eines der Hauptinstrumente der Kolonialisierung war. Die Kolonisatoren nutzten die Bildung, um die indigenen Gruppen einer bestimmten Kolonie zu assimilieren und auszubeuten, indem sie sie oft als Arbeitskraft ausbildeten, während sie gleichzeitig daran arbeiteten, lokales Wissen und Praktiken auszulöschen, einschließlich ihrer Wirtschaftsformen, Familiensysteme, politischen Systeme, religiösen, medizinischen und Bildungssysteme und vielem mehr.
Weiterhin ist das Konzept der Kolonisierung nützlich, um Licht auf Formen der Unterdrückung zu werfen, die mit Klasse und Geschlecht zu tun haben. Insbesondere kann "koloniale Erziehung" auch als eine spezifisch eurozentrische und androzentrische (männliche) Perspektive verstanden werden, die als universal gedacht und praktiziert wird. Darüber hinaus sind viele europäische Institutionen immer noch weitgehend das Erbe der Kolonialzeit, und Schulen und Bildung bilden da leider keine Ausnahme. Letztlich können Fragen von Identität, Ethnizität, der Nation, der Geographie, der Familie, der Geschichte, des Kapitalismus und sogar der ökologischen Krise nicht losgelöst von früheren Kolonialprojekten verstanden werden. Die zentrale Herausforderung für Pädagog*innen besteht darin, sich mit dem Kolonialismus und seinen vielen Vermächtnissen in alltäglichen Bildungseinrichtungen und in Bezug auf nationalisierte Lehrpläne mit besonderen Möglichkeiten der Darstellung der nationalen, europäischen und globalen Geschichte auseinanderzusetzen. Heute gibt es verschiedene Entkolonialisierungsbewegungen und Bildungsprojekte in akademischen Disziplinen, staatlichen Institutionen und der Zivilgesellschaft, auf die Pädagog*innen bei ihren eigenen Bemühungen zurückgreifen können, die kolonialen Vermächtnisse und ihre Auswirkungen im Bildungsbetrieb zu reflektieren.

b) Praktisches Beispiel

Während in kolonialen Kontexten der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache von indigenen Gruppen als eine konkrete de-kolonialisierende Praxis gesehen werden kann, so lassen sich in der Bildung im europäischen Kontext andere Methoden anwenden. Beispielsweise lassen sich Themen, Ideen und bedeutende Personen einzubeziehen, die mit dem Hintergrund der Lernenden sowie mit dem Hintergrund bestimmter Ortschaften in Resonanz stehen und damit verbunden sind. In dieser Hinsicht kann die Anthropologie auch eine Möglichkeit bieten, diese Hintergründe und Geschichten zu erforschen, einschließlich forschender Aktivitäten und Übungen unter Verwendung ethnographischer Instrumente und Techniken wie teilnehmende Beobachtung, Interviews, lebensgeschichtliche Interviews und anderer zur Verfügung stehender Methoden und Konzepte. Letztlich sollen Schüler*innen Werkzeuge an die Hand geben gegeben werden, mit denen sie selbst verschiedene Arten von Wissen über die Welt erforschen und aufdecken können.
Als eines von vielen Beispielen lässt sich das partizipatorische Projekt FUERTE (Future Urban Educators Conducting Research to Transform Teacher Education) anführen, welches von Jason G. Irizarry und Tara M. Brown (2014) an US-amerikanischen Schulen durchgeführt wurde. Der Ansatz basierte auf Participatory Action Research (PAR), in welcher Vertreter*innen von beforschten Gruppen als Co-Forscher*innen teilnehmen. Dieser Ansatz beruht auf der Überzeugung, dass das Verständnis und die Lösung sozialer Probleme die Kenntnis der unmittelbar Betroffenen voraussetzt. Irizarry und Brown haben im Projekt Schüler*innen in städtischen Schulen in die Mitgestaltung der Forschung einbezogen und so neben der Forschung selbst die Kompetenzen der Schüler*innen verbessert. Das Hauptziel des Projekts bestand darin, die Schüler*innen mit der PAR-Methodik vertraut zu machen, um im Folgenden die Bildungserfahrungen von Jugendlichen aus minorisierten Gruppen zu untersuchen, die in lokalen Schulen historisch schlechter gestellt waren. Die Schüler*innen recherchierten ihre eigenen Erfahrungen und entwickelten auf der Grundlage ihrer Forschungen Empfehlungen zur Verbesserung der Lehrerpraxis. Es wurde klar ersichtlich, dass sobald Schüler*innen in den Lernprozess von PAR eingebunden waren, sie kritischer wurden und sich aktiv involviert haben.

Weiterdenken…

  • Versuchen Sie, sich eine Welt vorzustellen, in der europäischer Kolonialismus nicht stattgefunden hätte. Was wäre anders? Würde der Staat und das Bildungssystem anders aussehen? Auf welche Art? Und wie wären Sie und ihre Lernenden davon beeinflusst?
  • Denken Sie über Ihr Curriculum nach. Ist es eurozentrisch? Welche Literatur verwenden Sie für Ihren Unterricht, welche "Klassiker" benutzen Sie? Beziehen Sie Quellen und Beispiele aus der ganzen Welt mit ein? Beziehen Sie Perspektiven und Wissen von Nicht-Weißen Gruppen und Frauen mit ein?
  • Wie gehen Sie mit Lernenden um? Können diese mitbestimmen, was sie lernen und wie? Könnte ein dem PAR-ähnelndem Ansatz in ihrem Unterricht gewinnbringend sein?

Stichwörter / Querverweise

Doing School, Ethnozentrismus, Intersektionalität, Reflexivität

Quellen

Asad, T. (1973). Anthropology & the colonial encounter. London: Ithaca Press.

Ashcroft, B., Griffiths, G., & Tiffin, H. (Eds.). (1995). The post-colonial studies reader. London:
Routledge.

Gupta, A., & Ferguson, J. (Eds). (1997). Culture power place: Explorations in critical anthropology. Duke University Press.

Irizarry, J., Brown. T. (2014.) “Humanizing Research in Dehumanizing Spaces: The Challenges and Opportunities of Conducting Participatory Action Research with Youth in Schools.” In D. Paris and M. Winn (eds.), Humanizing Research: Decolonializing Qualitative Inquiry with Youth And Communities, Thousand Oaks, CA: Sage, 63-80.

Loftsdóttir K. (2019). Crisis and Coloniality at Europe’s Margins. Creating Exotic Iceland. London: Routledge.

Said. E. (1979). Orientalism. Vintage Books.

Stoler, L. A. (1995). Race and the Education of Desire: Foucault's History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham: Duke University Press.

Stoler, L. A. (2013). Imperial Debris: On Ruin and Ruination. Durham: Duke University Press.

Autor*innen

Jelena Kuspjak, Danijela Birt Katić (Kroatien)

The European Commission support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflects the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use, which may be made of the information contained therein.

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