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Macht

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Das Konzept der Macht wird in der wissenschaftlichen Literatur vielfältig interpretiert. Oft wird Macht als die Fähigkeit oder das Recht verstanden, das Gruppen/Individuen durch gemeinschaftlichen Konsens Entscheidungen treffen können, die alle Mitglieder der Gesellschaft betreffen. Aus einer systemischen Perspektive wird Macht eher als die Art und Weise gesehen, in der die Gesellschaft dem individuellen Handeln bestimmte Beschränkungen auferlegt. Aus einer akteursorientierten Perspektive bezieht sich Macht auf die Fähigkeit von Einzelnen, die Entscheidungen und Beschlüsse anderer zu beeinflussen. Zusammengenommen ist Macht nichts per se negatives (oder positives), kann unterschiedlichste Facetten haben und ist Teil aller Formen sozialer Beziehungen.
Auch im Bildungskontext ist Macht vielseitig und findet sich formalen wie informellen Strukturen sowie in professionellen wie zwischenmenschlichen Beziehungen. In dieser Hinsicht ist das Konzept der Macht geeignet, zu beschreiben, wie Strukturen das Handeln von Individuen sowie deren Interaktion, beispielsweise von Regierungs- oder Verwaltungsorganen, Lehrer*innen oder Schüler*innen beeinflussen. Während z.B. Lehrkräfte und Verwaltungspersonal eine offizielle Autorität und somit Macht besitzen, finden Schüler*innen oft und sogar recht leicht Wege, diese Macht zu untergraben und ihre Handlungsfähigkeit zu behalten. In einem kulturell diversen schulischen Umfeld können Unterschiede in Machtposition sowohl als Quelle der Befähigung oder aber auch der Entmächtigung unter Lehrer*innen wie Schüler*innen dienen.

Historischer Kontext

Zu Macht und Machtverhältnissen gibt es verschiedenste Verständnisse und Ansätze, auf die die Anthropologie zurückgreift, von der physischen Herrschaft bis zur symbolischen Ermächtigung. Nach dem Verständnis eines der Gründerfiguren der Soziologie, Max Weber, ist Macht "die Fähigkeit, den eigenen Willen auf das Verhalten anderer durchzusetzen" (1978 [1919]), mit anderen Worten, die Fähigkeit, jemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, was er sonst nicht getan hätte. Systemische oder strukturelle Macht, wie sie von den Marxschen Ansätzen definiert wird, findet sich in der Arbeitsteilung, dem Rechtssystem und anderen strukturellen Merkmalen der Gesellschaft. Praktisch alle Menschen haben ein gewisses Macht- oder Einflusspotenzial. Diese Ressource ist jedoch ungleich verteilt und immer kontextabhängig (Eriksen 2001: 157-175).
Die Anthropologie hat Aspekte der Macht in verschiedenen Formen der sozialen Organisation (nichtstaatliche und staatliche Gesellschaften) und innerhalb sowohl hierarchischer als auch egalitärer sozialer Beziehungen untersucht. Die Auswirkungen von Kolonialismus haben anthropologische Konzeptualisierungen von Macht und Machtbeziehungen zwischen Nationen, Gruppen und Individuen stark beeinflusst (Morton 1967). Anthropolog*innen haben analysiert, wie Macht beansprucht und angefochten wird und wie Formen der Herrschaft durch den Gebrauch von Sprache, Ritualen und Gewalt durchgesetzt werden und wie diesen auch Widerstand geleistet wird. Sie haben auch die bürokratische Macht in Staatsgesellschaften und die Aufrechterhaltung institutioneller Autorität sowie die verschiedenen Systeme untersucht, durch die Macht legitimiert oder angefochten wird (Niezen 2018). 
Ein wichtiger Begriff in dem Zusammenhang von Staat und Institution ist der Begriff der Hegemonie von dem italienischem Journalisten, Politiker und Philosophen Antonio Gramsci (1968).  Der Begriff beschreibt die Funktionsweise, wie Macht totalisierend werden kann, bzw. wie der Staat und/oder eine Mehrheit den gesellschaftlichen Konsens bestimmen und dominieren kann. Der Hegemoniebegriff ermöglicht es, über die Strategien nachzudenken, mit denen die Ideologien oder Weltanschauungen mächtiger sozialer Gruppen sowohl aufrechterhalten als auch verändert werden. Darüber hinaus kann Hegemonie im Sinne der Art und Weise verstanden werden, wie Staaten eine große Zahl von Menschen durch ihren institutionellen Apparat regieren und - ideologisch, sozial und physisch - jene Bürger kontrollieren, die sich staatlichen Handlungen widersetzen. Ein umgekehrter, aber von Macht ebenfalls abhängiger Aspekt ist der Zustand der Ohnmacht. James Scott hat den Begriff Widerstand (1985) sozialwissenschaftlich geprägt, um zu veranschaulichen, wie die scheinbar Ohnmächtigen und Marginalisierten oft eigene Strategien - so genannte weapons of the weak (Waffen der Schwachen) entwickeln, um ihre Kontrolle über ihre eigene Existenz zu vergrößern.
Pierre Bourdieu (1977) hat Macht als die Kraft beschrieben, die alltägliche Handlungen hervorbringt und leitet. Um die symbolischen Ausdrucksformen der Macht zu beschreiben, führte Bourdieu den Begriff des kulturellen Kapitals als Ressource und Werkzeug zur Ausübung von Herrschaft ein. Kulturelles Kapital umfasst eine Vielzahl von Gewohnheiten, wie z.B. Sprachkenntnisse, Kunstpräferenzen, Belesenheit, Bildung und Bewusstsein für politische Fragen. Bourdieu zufolge sind diejenigen, die das meiste kulturelle Kapital besitzen, diejenigen, die die gesellschaftlichen Normen definieren und durchsetzen. 
Ein anderer prominenter Sozialtheoretiker der Macht, der französische Philosoph Michel Foucault (2000), betrachtete Macht als von vielen verschiedenen Positionen aus produziert und reproduziert, durch ständige soziale Interaktion. Er betonte, dass Macht produktiv und befähigend ist und auf allen Ebenen der Gesellschaft und in allen sozialen Beziehungen zirkuliert. Er assoziierte Macht mit Wissen und betrachtete alles Wissen als untrennbar mit Regimen und Technologien der Macht und Disziplin verbunden. In dieser Sichtweise sind Schulen Orte, an denen durch disziplinäre Strukturen bestimmte Sichtweisen produziert werden sollten. Das Panoptikum, das gemeinhin mit Foucault in Verbindung gebracht wird, ist eine Metapher für eine bestimmte disziplinäre Macht, eine kontinuierliche, anonyme und alles durchdringende Überwachung, die auf allen Ebenen der sozialen Organisation wirkt. 

a) Diskussion

In Schulen und anderen Bildungseinrichtungen entstehen zahlreiche Konflikte in Bezug auf administrative Rollen, Unterrichtsmethoden, den Lehrplan usw. (Burbules, 1986: 111). Zentral ist, dass sich in der Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen die Machtverhältnisse im Klassenzimmer wiederspiegeln und wie sich diese im Verlauf von Bildungsprozessen auswirken (Jackson 1990). Lehrer*innen sind oft mit Entscheidungen darüber konfrontiert, wie sie ihre Macht in einer Weise nutzen können, die sowohl für sie selbst als auch für die Schüler vorteilhaft ist. Effektiver Unterricht hängt oft mit einem erfolgreichen Klassenraummanagement und den Strategien zusammen, die Lehrer einsetzen*innen, um die Schüler zu "kontrollieren" (Plax et al., 1986). In der Praxis können Kontrollstrategien jedoch auch kontraproduktiv sein und zu verschiedenen Formen des Widerstands der Schüler*innen, kreativer Nichteinhaltung oder aggressiver Störung führen. So müssen Lehrer*innen naturgemäß vorsichtig sein, wie sie ihre pädagogische Autorität ausüben, und nach Wegen suchen, die Schüler*innen zu ermutigen, ihre Meinung über alltägliche Probleme im Klassenzimmer zu äußern. Sullivan (2002:2) stellt fest, dass die Schaffung ermächtigender Bedingungen es den Schüler*innen erleichtern kann, ihr Bedürfnis nach einem wertschätzendem Umgang auf Augenhöhe zu erfüllen, ohne Macht oder Widerstand auszuüben. Eine solche Befähigung schafft bei den Schüler*innen ein Verantwortungsgefühl, das auf dem Vertrauen der Lehrer*innen beruht, aber auch auf einem Gefühl der Zugehörigkeit und Verbundenheit mit den Mitschüler*innen (Kirk et al. 2016). Nach Ken Macrorie (1970) ist die persönliche Entwicklung und Befähigung der Schüler*innen erst eine Folge der reflektierten Befähigung von Lehrer*innen.

b) Praktisches Beispiel

In einer Studie über die Wahrnehmung des täglichen Lebens im Klassenzimmer durch Lehrer*innen und Schüler*innen untersuchte Anne Sullivan (2002) die Umsetzung von Praktiken der Befähigung von Schülern und Studenten in einem Grundschulklassenzimmer. Sullivan besuchte die Klasse etwa fünf Wochen lang täglich und folgte dabei zwei Lehrer*innen. Der eine zeichnete sich dadurch aus, soziale Interaktion zu fördern, um den Schüler*innen zu helfen, soziale Beziehungen zu stärken. Das Ziel bestand darin, eine engeren und kollegialeren Umgang unter den Mitschüler*innen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Autorin stellt dies dem Beispiel eines anderen Lehrers gegenüber, der sich hauptsächlich auf die fachlichen Inhalte seines Unterricht konzentrierte und die genannten Aspekte vernachlässigte.
Sullivan argumentiert, dass die Befähigung der Schüler*innen, sozialen Beziehungen nachzugehen, ein wichtiger Prozess der gemeinschaftlichen Befähigung ist. Sie beobachtete, dass das Niveau der zwischenmenschlichen Befähigung variierte, da sich die Machtverhältnisse unter den Schüler*innen im Laufe der Zeit veränderten. So schreibt sie: "Zum Beispiel variierte der Grad der Befähigung, als die Schüler*innen Rollen und Verantwortlichkeiten übernahmen, wie z.B. die Person des Tages, denn mit der Rolle übernahmen sie eine Machtposition und gewannen so Macht über Gleichaltrige. Einige Schüler*innen waren stärker befähigt als andere, weil sie bereit waren, diese Befähigung zu erlangen, oder weil sie über die notwendigen Fähigkeiten verfügten. Darüber hinaus nahmen Schüler*innen wahr, dass einige ihrer Mitschüler*innen Macht hatten, weil sie z.B. populär waren und diese somit Macht über diejenigen hatten, die die Ansichten vertraten. Daher schien das Niveau der zwischenmenschlichen Befähigung aufgrund der von den Schüler*innen eingenommenen Rollen zu variieren (Sullivan, 2002: 8). Sullivan kommt zu dem Schluss, dass das Empowerment der Studierenden ein fließender Vorgang ist. Schüler*innen mit sozialen Fähigkeiten, die ihnen halfen, in einem Aspekt ihres Lebens "Macht zu etwas" zu erlangen, verfügten nicht immer über Fähigkeiten in einem anderen Bereich.

Weiter denken:

  • Wie manifestieren sich Machtverhältnisse in ihre Bildungspraxis und welche Auswirkungen haben sie auf diese?
  • Waren Sie schonmal mit machtgeladenen Situationen konfrontiert, an denen Sie schier verzweifelt sind?
  • Welche Macht besitzen Lehrer*innen, um ihre Schüler*innen zu ermächtigen?

Stichwörter / Querverweise

Hegemonie, Ermächtigung, Widerstand, Disziplin, Individuen und Gesellschaft, Kulturelles Kapital, Reflexivität, doing schhol

Sources

Burbules, N. (1986). A Theory of Power in Education. Educational Theory,36 (2). (95-114).

Bourdieu, P. (1977). Outline of a Theory of Practice. Cambridge: Cambridge University Press.

Eriksen, T. H. (2001 [1995]). Small places, large issues: An introduction to social and cultural anthropology. London, Sterling, Virginia: Pluto Press.

Fried, M., H. (1967). The Evolution of Political Society: An Essay in Political Anthroplogy.New York: McGraw-Hill.

Foucault, M. (2000). Power: Essential works of Foucault, 1954–1984. New York: The New Press.

Gramsci, A. (1968). Prison Notebooks. London: Lawrence and Wishart.

Jackson, P. W. (1990 [1968]). Life in classrooms: Reissued with a new introduction. New York: Teachers College Press.

Kirk, C. M, (et. al.) (2016). The power of student empowerment: Measuring classroom predictors and individual indicators. The Journal of Educational Research, 109 (6). (589- 595).

Macrorie, K. (1970). Uptaught. New York: Hayden Book Company.

Niezen, R. (2018). Power, anthropological approaches to. In Callan, H., (Ed.) The International Encyclopedia of Anthropology, London and New York: Willey. (1-21).

Plax, T., G. (et. Al.) (1986). Power in the classroom VI: Verbal control strategies, nonverbal immediacy and affective learning, Communication Education, 35(1)., (43-55).

Scott, J., C. (1985). Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven, CT: Yale University Press.

Sullivan, A., M. (2002). The Nature of Student Empowerment. 1-11. https://www.researchgate.net/profile/Anna_Sullivan3/publication/255591390_The_Nature_of_Student_Empowerment/links/54ed942b0cf28f3e6535bc7d/The-Nature-of-Student-Empowerment.pdf

Weber, M. (1978 [1919]). Economy and Society: An Outline of Interpretive Sociology. Berkeley: University of California Press.

Autor*innen

Ioannis Manos, Georgia Sarikoudi (Griechenland)

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