Das Konzept der Menschenrechte stützt sich auf Vorstellungen von gemeinsamen ethischen und moralischen Werten, die für alle Gesellschaften und Gemeinschaften gelten. Menschenrechte umfassen sowohl Ansprüche über den Schutz vor Verletzungen der bürgerlichen, politischen, sozialen, sexuellen und wirtschaftlichen Rechte als auch eine Reihe von Institutionen und politischen Prozessen, die Ansprüche und Forderungen realisieren. Beide Ansätze sind von einer Rechtssprache geprägt, die sowohl aus dem Völkerrecht und den Rechtsstatuten als auch aus internationalen Konventionen und nationalen Verfassungen abgeleitet ist. Beide vermitteln ein Spannungsverhältnis zwischen kollektiven und individuellen Rechten und einen Konflikt zwischen sozialer Gerechtigkeit und nationaler Sicherheit.
Obwohl Menschenrechte universelle Ansprüche beinhalten, finden sie dennoch immer in bestimmten lokalen Kontexten statt. Anthropologische Ansätze untersuchen daher, wie Menschenrechte in bestimmten Kontexten hergestellt, wahrgenommen und verwirklicht werden. Die Menschenrechte werden nicht als eine moralisch absolute oder rechtliche Regel angesehen, sondern vielmehr als eine dynamische soziale und politische Praxis, die manipuliert werden kann, um bestimmte politische Projekte zu fördern, wie sie von Einzelpersonen, Gruppen, Staaten oder anderen kollektiven Akteur*innen verfolgt werden (Wilson 1997).
Bildung wird von internationalen Gremien und Organisationen als ein grundlegendes Menschenrecht wahrgenommen und identifiziert, das durch nationale Gesetzgebung und internationale Abkommen geschützt wird. Jedes Individuum, unabhängig von Nationalität, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion oder politischer Präferenz, Alter oder Behinderung, hat Anspruch auf eine kostenlose Bildung. Dieses Recht ist mit dem Anliegen und der Verantwortung eines Staates verbunden, den Zugang zu formaler Bildung für alle seine Bürger*innen zu sichern und zu unterstützen. So wird beispielsweise die Verweigerung des physischen Zugangs zu einer Schuleinrichtung für Kinder mit Behinderungen als eine Verweigerung des Rechts auf Bildung angesehen, für die staatliche Institutionen zur Rechenschaft gezogen werden (Clapham 2007: 123-127).
Die Sozialwissenschaften haben sich den Menschenrechten auf der Grundlage einer Zwiespältigkeit zwischen Universalismus, d.h. allgemein gültigen Prinzipien und Relativismus, d.h. nur spezifisch geltenden Prinzipen genähert (Eriksen 2001). Die Menschenrechte sind insofern universell, als sie idealerweise für alle Menschen gelten. Die Menschenrechte sind aber auch insofern relativ, als sie ein besonderes Erzeugnis des modernen europäischen Denkens sind. Es kann keinen universellen Rechtsbegriff geben, der jenseits eines spezifischen kulturellen und historischen Kontextes liegt, weil alle Gesellschaften ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechten haben.
Ebenso innewohnend in der Idee der Menschenrechte ist die Dichotomie zwischen kollektivistischen und individualistischen Rechtsansprüchen, wie sie in der philosophischen Debatte zwischen Kommunitarismus (Taylor 1992) und Liberalismus (Rorty 1991) zum Ausdruck kommt. Ersterer behauptet, dass die Gemeinschaft vor dem Individuum steht, während letzterer die Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft verteidigt. Einen kombinierten Ansatz, den liberalen Multikulturalismus, bietet Will Kymlicka, der versucht, beiden gerecht zu werden (1995).
Die Anthropologie hat sich Anfang der 1990er Jahre als Reaktion auf die historischen und geopolitischen Veränderungen, die weitgehend nach dem Ende des Kalten Krieges stattfanden, systematisch mit der Untersuchung der Menschenrechte befasst. Die Fokussierung der internationalen Gemeinschaft auf kulturelle Diversität rückte die Frage der Menschenrechte in den Mittelpunkt politischer Verhandlungen zwischen Gruppen und politischen Institutionen auf lokaler, nationaler und supranationaler Ebene (Messer 1993).
Bei der Untersuchung des universellen Charakters der Menschenrechte kam Renteln zu dem Schluss, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, dass es kulturübergreifende Universalien gibt, die internationale Menschenrechtsstandards unterstützen (1990). Ganz im Gegenteil, es bestehen große Unterschiede zwischen den Gesellschaften hinsichtlich dessen, was als richtig und was als falsch angesehen wird.
Verschiedene individuelle und kollektive Handlungsträger*innen kämpfen um Rechte, entweder als Mittel zur Konfrontation mit gewaltsamen nationalen Politiken, die darauf abzielen, kulturelle Homogenität durchzusetzen, oder als Möglichkeit des Zugangs zu sozialen Werten wie Glaubensfreiheit, Anerkennung einer unverwechselbaren Gruppenidentität oder materiellen Ressourcen (Cowan, Dembour, & Wilson 2001, Wilson & Mitchell 2003).
Zeitgenössische anthropologische Menschenrechtsansätze untersuchen, wie sich die Menschen vor Ort Diskurse und Praktiken im Bereich der Menschenrechte aneignen, indem sie sich auf globale Diskurse stützen und sich ihnen anpassen. Sie untersuchen auch die Arten von Konflikten, die als Ergebnis von Versuchen zur Realisierung von Menschenrechten in verschiedenen Gesellschaften entstehen (Goodale 2006, Wilson 1997).
Die Beziehung zwischen Bildung und Menschenrechten kann aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Bildung als grundlegendes Menschenrecht und Bildung im Bereich der Menschenrechte. Die erstgenannte Perspektive befasst sich mit dem Potenzial der Menschenrechte, einen Rahmen für die Ermöglichung einer stärkeren Einbeziehung von Bildung in Kontexte der Diversität zu schaffen. Die zweite Perspektive befasst sich mit der Frage, wie Lehrer*innen und Schüler*innen in Menschenrechtsfragen ausgebildet werden können, um sie in die Lage zu versetzen, mit der sozialen Ungerechtigkeit der heutigen multikulturellen Welt umzugehen.
Internationale Organisationen und Nationalstaaten, die an der Idee der Menschenrechte festhalten, sehen den Zugang zu Bildung als ein universelles Recht an, auf das alle Menschen Anspruch haben - ein unverzichtbares Mittel zur Verwirklichung anderer Menschenrechte. Menschenrechtsinstitutionen stellen fest, dass Menschen Anspruch auf eine Bildung haben, die ihre Rechte respektiert. Die Respektierung dieses Rechts und die Unterstützung des Zugangs zu Bildung wird als wesentlicher und integraler Bestandteil der demokratischen Staatsbürgerschaft in multikulturellen Gesellschaften angesehen (Covell & Howe 2005).
Bildung im Bereich der Menschenrechte wird als eine Bildung in, für und über Menschenrechte beschrieben. Es handelt sich um Bildung in den Erkenntnissen und Philosophien der Menschenrechte, die in einer Weise vermittelt wird, die mit den heutigen Prinzipien der Menschenrechte in Einklang steht. Sie sollte die Lernenden befähigen, ihre individuellen oder kollektiven Rechte in einer Weise zu verteidigen, die Verantwortung anerkennt und Respekt für die Rechte anderer zeigt. Flowers (2004) hat vier Schlüsselaspekte der Menschenrechtserziehung identifiziert: 1) Sie gründet auf den Prinzipien der Menschenrechtsverträge, 2) sie verwendet Methoden, die die Prinzipien des Respekts für den Einzelnen und der kulturellen Vielfalt widerspiegeln, 3) sie richtet sich an Fähigkeiten und Einstellungen sowie an Wissen und 4) sie beinhaltet Maßnahmen auf individueller, lokaler oder globaler Ebene.
Faktoren, die zu einem wachsenden Interesse an Menschenrechtserziehung beitragen, sind eine zunehmende Diversifizierung der lokalen Gemeinschaften und die internationale Anerkennung der Notwendigkeit, den Herausforderungen, die sich aus der anhaltenden Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Welt ergeben, durch Bildung zu begegnen (Osler und Starkey 2006).
Damit verbunden sind demokratische Arbeitsweisen und die Ermächtigung von Einzelpersonen und Gruppen (Magendzo, 2005). Zwei Aspekten wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die für die Menschenrechtserziehung in der formalen Schulbildung von Bedeutung sind: den Anforderungen des Lehrplans und den Einstellungen und Kenntnissen von Lehrer*innen.
In einer Fallstudie aus Mexiko untersuchte Sainz (2018) das professionelle Wissen und die Praxis von Pädagog*innen, die Menschenrechtsbildungsprogramme durchführen. Sie untersuchte die Strategien von Pädagog*innen im Bereich Menschenrechtsbildung, die mit einer alarmierenden Krise der Gewalt, nämlich der zunehmenden Zahl von Misshandlungen und gewalttätigen Zwischenfällen, von denen Kinder im Land betroffen sind, umgehen müssen. Fünfzehn Pädagog*innen, die in drei verschiedenen Organisationen tätig sind, arbeiteten an der Studie mit. Sie sammelten über einen Zeitraum von sechs Monaten Daten mit verschiedenen qualitativen Forschungstechniken (halbstrukturierte Interviews, Analyse der Beobachtungsdokumente der Teilnehmer*innen). Sainz fand heraus, dass das Unterrichten in gewalttätigen Kontexten die Pädagog*innen dazu zwingt, zu erkennen, dass die Menschenrechte weit von der Realität entfernt sind, und die große Kluft zwischen dem Anspruch dieser Rechte und ihrer tatsächlichen Umsetzung anzuerkennen. Diese Diskrepanz führt dazu, dass Pädagog*innen den Zweck der Menschenrechte in Frage stellen, ihre zugrunde liegenden Annahmen in Frage stellen und sich mit ihren Grenzen auseinandersetzen. Auf diese Weise verstehen sie nicht nur die Problematik der Menschenrechte, sondern entwickeln auch eine lokale kritische Pädagogik der Menschenrechtsbildung, die die Grenzen der Menschenrechte akzeptiert, ihre Komplexität erfasst und ihre befreienden Möglichkeiten betont. Indem Pädagog*innen Kindern die Menschenrechte zugänglich machen, befähigen sie sie dazu, Verletzungen und Verstöße gegen ihre Rechte zu erkennen und sich dagegen zu wehren. Indem sie einem praktischen Ansatz den Vorzug vor einem theoretischen geben, fördern Pädagog*innen die Entwicklung der praktischen Fähigkeiten, die Kinder und Jugendliche zum Schutz ihrer Rechte benötigen.
In einer anderen Studie führte Quennerstedt (2019) eine Feldforschung durch, um das Lehren und Lernen von Menschenrechten in zwei Klassen von Kindern im Alter von 8-9 Jahren in Schweden zu untersuchen. Die Schulen befanden sich beide in Wohngebieten der Mittelschicht in einer mittelgroßen schwedischen Stadt. In jeder Klasse gab es etwa 20 Schülerinnen und Schüler, beide mit gleichmäßiger Geschlechterverteilung und nur wenige Schüler*innen nicht-schwedischer Ethnizität. Die beiden Lehrer*innen unterschieden sich in ihrer Unterrichtserfahrung, während eine etwa 20 Jahre lang in der Grundschule unterrichtet hatte, waren es bei der anderen etwa 4 Jahre. Quennerstedt konzentrierte sich auf die Frage, warum Lehrer*innen und Schüler*innen dieser Altersgruppe glauben, dass in der Schule Menschenrechtsbildung angeboten werden sollte. Sie interessierte sich dementsprechend dafür, wie Kinder und Lehrer*innen die pädagogischen Ziele der Rechtserziehung verstehen. Genauer gesagt untersuchte sie, wie die Lehrer*innen die Ziele der rechtebasierten Erziehung an verschiedenen Punkten des Prozesses wahrnahmen, z.B. wie sie ihre eigenen Ideen und Lehrplanstandards in Ziele umwandelten. Sie untersuchte auch, wie die Schüler*innen die Ziele der Rechtserziehung aufnahmen. Quennerstedt stellte fest, dass das Verständnis von Lehrer*innen von den Zielen der Rechtserziehung recht ähnlich sei. Sowohl Lehrer*innen als auch Schüler*innen erkannten und betonten die Bedeutung des Wissens über die Menschenrechte und die ethische Verbundenheit mit menschenrechtlichen Ideen und moralischen Forderungen.
In- & Exklusion, Staatsbürgerschaft, Transnationalismus, Universalismus, Identität, Nationalstaaten, Kultur, doing school
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Ioannis Manos (Griechenland)
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