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Migration

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Bei dem Begriff der Migration handelt es sich vereinfacht gesagt um ein Konzept, welches den längerfristigen Lebensmittelpunktwechsel von Menschen beschreibt. Dies kann sowohl innerhalb von Staatsgrenzen geschehen, als auch international. Durch das Konzept, das sowohl als gesellschaftliches Phänomen als auch als gelebte Erfahrung verstanden wird, werden verschiedene Praktiken in den Blick genommen, die besonders im Bildungskontext relevant sind.
Ansetzen lässt sich hier bei staatlicher Politik. Hierbei ist Begriff des/der Staatsbürger*in entscheidend, welcher Menschen einen politischen Status zuweist und so eine rechtliche Einordnung miteinhergeht. Da die Staatsbürgerschaft lediglich "Insider" umfasst (diejenigen, die legalen Zugang zu verschiedenen Rechten und staatlichen Institutionen wie Bildung haben), schafft sie für Außenstehende oftmals schwierige Verhältnisse. Im Hinblick auf die Bildung ist es für das Verständnis der Erfahrungen von Migrant*innen entscheidend, nachzuvollziehen, wie diese Trennung sozial konstruiert ist.
Migration nimmt global zu (OECD 2014) und so sind Schulen auf der ganzen Welt in der Verantwortung, immer mehr Schüler*innen mit Migrationshintergrund Kompetenzen zu vermitteln und den Unterricht inklusiv zu gestalten. Denn die Wissensbestände, die Menschen mitbringen, in der Bildungsanthropologie auch als "funds of knowlege" bezeichnet (Arzubiaga et al. 2009, Moll 2010), sind im schulischen Lehrplan relevant, um den Unterricht für Kinder gleichermaßen förderlich zu gestalten. Lehrer*innen kommt hierbei eine komplexe Rolle zu, die im späteren Verlauf nochmals detaillierter beschrieben wird.

Historischer Kontext

Der Beitrag der Anthropologie zur Erforschung der Migration besteht in der Aufmerksamkeit auf die gelebte Erfahrung "zwischen dem Ort, von dem Migrant*innen kommen, und dem Ort oder den Orten, zu denen sie gehen" (Brettell 2000: 98, Horevitz 2009). Historisch gesehen wurde Migration zunächst in der Anthropologie und anderen Sozialwissenschaften als die Abwanderung von Menschen aus kleinen, ländlichen Ortschaften in große städtische Zentren untersucht. Die so genannte Chicago School of Sociology mit Studien in städtischen Gebieten Nordamerikas (Bulmer 1984) und die so genannte Manchester School of Anthropology mit Studien in Süd- und Zentralafrika (Werbner 1984) konzentrierten sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts auf das Verschieben des Lebensmittelpunkts einer großen Zahl von Binnenmigrant*innen in Großstädten.
Dabei ging es vor allem um Aspekte des sozialen Wandels, Formen des Zusammenlebens verschiedener ethnischer Gruppen und die Bedeutung von Familien- und Freundesnetzwerken in diesen neu entstehenden Lebensräumen. Ein besonderer Fokus lag auf der Aufrechterhaltung von bestehenden sozialen Netzwerken und ihre Relevanz im urbanen Raum. Letztlich wurden Lebensstile zwischen Stadt und Land gegenüberstellt. 
Einen neuen Impuls erfuhr die Migrationsforschung in den 1980er und 1990er Jahren rund um die Bewegungen von Arbeitnehmer*innen aus Asien in die arabischen Golfstaaten. Analysen der sozialen und wirtschaftlichen Kontexte, in denen Migrant*innen, ihre Familien und Gemeinschaften agierten, haben das Modell von ökonomisch motivierter Migration in Frage gestellt und die sozialen und kulturellen Aspekte menschlicher Bewegungsdynamiken betont. Es ergaben sich verschiedene Schlüsselthemen, darunter die soziale Organisation und die politische Ökonomie der Migration, die Untersuchung sozialer Netzwerke und Migrant*innen-Organisationen sowie die Auswirkungen der Migration auf Identitätsbildung (Eades 1987).
Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wurde das Feld noch diverser, mittlerweile befasst sich die anthropologische Migrationsforschung mit einer Vielzahl von Themen und Fragestellungen. Eine grundlegende Unterteilung der Wahrnehmung von Migrant*innen nach Green wären auf der einen Seite die ökonomische, welche Migrant*innen als Arbeiter*innen darstellt, und die kulturelle, die sie als Ausländer*innen wahrnimmt (2004: 54). 
Weiterhin konzentrieren sich anthropologische Arbeiten zu Migration auf die Beziehungen zwischen lokalen Praktiken und globalen Kräften und Diskursen, auf Prozesse der Inklusion und Exklusion, auf Transnationalismus und die Bedeutungen von Staatsbürgerschaft sowie auf die Problematisierung von Begriffen wie Multikulturalismus und kultureller Vielfalt.

a) Diskussion

Die Bildungsanthropologie überschneidet sich mit der Anthropologie der Migration unter anderem an dem Punkt, an dem Migranten*innen staatlichen Bildungspolitiken, In- oder Exklusion im Zusammenhang mit Staatsbürgerschaft und politischen Rechten sowie Othering-Prozessen (siehe Beitrag Othering) auf der Grundlage vermeintlich kultureller Merkmale konfrontiert sind. Die Globalisierung sowie die Intensivierung von Migration haben neue Anforderungen an die Aufnahmeländer in Bezug auf Regierungspolitik, Rechtspolitik und Bürgerrechte gestellt. Infolgedessen werden die Bildungseinrichtungen und -Maßnahmen systematisiert.
Viele anthropologische Studien zu Migration und Bildung haben sich auf Prozesse Einbindung von Migrant*innen der zweiten, dritten und auch vierten Generation, oft aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, in die Aufnahmegesellschaften (wie im Fall der USA oder Skandinaviens) und auf die Rolle von Bildungseinrichtungen in Prozessen der In- und Exklusion konzentriert (Levitt 2009). Wie bereits beschrieben ist hier die Thematik der Staatsbürgerschaft essentiell. So untersuchen Anthropolog*innen die Art und Weise, wie Staatsbürgerschaft die häufig mit Diskriminierung einhergeht, und von Migrant*innen im Umgang mit nationalstaatlichen Institutionen und/oder im Kontext alltäglicher Interaktionen ausgehandelt wird (Reed-Danahay & Brettell 2008). Staatsbürgerschaft als ein politischer Status oder eine Reihe von Rechten und Pflichten zwischen Individuen und dem Staat fungiert als Grenze zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen (Werbner und Yuval-Davis, 1999, S. 4). Um Migrationserfahrungen zu fassen haben Anthropolog*innen das Konzept des Transnationalismus verwendet. Dieser wird als ein sozialer Prozess verstanden, bei dem Migrant*innen zu einem bestimmten Zeitpunkt in mehr als einer Nation sozial, kulturell und politisch präsent sind. Aus einer transnationalen Perspektive sind Migrant*innen keineswegs „entwurzelt“, sondern aktive Teilnehmer*innen sowohl in der Heimat- als auch in der Aufnahmegesellschaft (Vertovec 2010).
Die anthropologischen Arbeiten zum Transnationalismus betonen die Art und Weise, wie sich Identitäten gleichzeitig in lokalen, nationalen und globalen Räumen bilden. Dies geschieht über nationale Grenzen hinweg. Dieses Verständnis des alltäglichen transnationalen Handelns und transnationaler Identitäten ist wichtig, um die Beziehung zwischen Migration und staatlicher Bildung herauszuarbeiten.

b) Praktisches Beispiel

John Bowen (2007) untersuchte das gesetzliche Kopftuchverbot an staatlichen Schulen in Frankreich im Jahr 2004. Er argumentiert, dass die Fokussierung auf das Kopftuch aus einer großen Besorgnis über die öffentliche Präsenz der Religion in den Schulen resultierte und aus der Befürchtung, dass dies eine Verbindung zu radikalisierten Formen des Islam darstellen könnte (2007: 65ff). Die Auswirkungen des Gesetzes zeigten sich in der Praxis an staatlichen Schulen, wo Lehrkräfte betraut wurden, zu entscheiden, ob die Mädchen richtig enthüllt wurden und ob alternative Kopftücher nicht zu sehr einem "religiösen" Symbol ähnelten. Bowen interpretiert die Ereignisse als ein Bemühen, Auftreten und Verhalten im Schulleben zu kontrollieren. Dies basiert auf einem weithin geteilten Unbehagen über die zunehmend sichtbare Beteiligung von Menschen muslimischen Glaubens in Frankreich und Europa generell.
In einer Studie über die Auswirkungen von Migration auf die Schulbildung in Neusüdwales, Australien, analysieren Iredale & Fox (1997) die demographischen Veränderungen im Schüler*innenprofil und wie das lokale Schulsystem darauf reagierte. Generell ist die australische Einwanderungspolitik von einem politischen Ansatz des Multikulturalismus geprägt. Anstatt einer Assimilierung von Migrant*innen wird hier der Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen Vorteile einer kulturell vielfältigen Nation gelegt, in der es ermöglicht werden soll, die australische Staatsbürgerschaft zu erwerben. So bietet die örtliche Administration Englischprogramme für Zugezogene mit nicht-englischsprachigem Hintergrund an und finanziert Gleichstellungsprogramme in der Bildung.
Aus der Studie geht hervor, dass viele Schüler*innen mit nicht-englischsprachigem Hintergrund dennoch keinen adäquaten Sprachunterricht erhalten und dass Aspekte des schulischen Umfelds, wie z.B. die Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen, nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten. So wird argumentiert, dass in einer multikulturellen Gesellschaft, wie Australien sich selbst sieht, Zugänge zu Bildung relevanter werden müssen. Die staatlichen Bildungseinrichtungen sollten allen Menschen eine angemessene Bildung und Ausbildung bieten und ihre volle Teilnahme an allen Aktivitäten des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gefüges sicherstellen.
In einer weiteren Studie über die Zusammenhänge zwischen transnationaler Migration und bildungsbezogener Aufstiegsmobilität analysiert Carnicer (2019) die Migration einer jungen Frau aus einer Favela in Brasilien nach Deutschland als einen Fall von Bildungsmigration. Er beschreibt die sozialen Verläufe dieser Frau und ihrer Familie und interpretiert sie im Kontext der jüngsten sozioökonomischen Entwicklungen in Brasilien. Dadurch zeigt er, wie Bildungsungleichheit Migration antreiben kann. Die Studie arbeitet insbesondere heraus, wie Migrant*innen aus benachteiligten sozialen Schichten aktiv an der Transnationalisierung von Bildung beteiligt sind. Weiterhin zeigt sie anschaulich, dass transnationale Bildungskarrieren von unterprivilegierten Migrant*innen auch durch die Bildungssysteme der Auswanderungs- und Einwanderungsländer entscheidend beeinflusst werden. 

Weiter denken

  • Wie wirkt sich Migration auf die nationale Bildungspolitik aus?
  • Was sollte ein staatliches Bildungssystem Kindern mit Migrationshintergrund bieten?
  • Welche Art von Bildung ist notwendig, um mit den Auswirkungen der Migration im Schulkontext umzugehen?
  • Welche Fähigkeiten müssen Lehrer*innen erwerben, um ihre Rolle als Pädagog*innen im Kontext der Migration wahrnehmen zu können?

Stichwörter /Querverweise

Inklusion, Exklusion, Doing School, Transnationalismus, Idenität, Othering,

Quellen

Arzubiaga A. E. (et al.) (2009). The education of children in immigrant families. Educational Research Review, 33. (246–271).

Bowen, J., R. (2007). Why the French don’t like headscarves: Islam, the state, and public space. Princeton and Oxford: Princeton University Press.

Brettell, C. (2000). Theorizing migration in anthropology: The social construction of networks, identities, communities and globalscapes. In Brettell, C. and Hollifield, J. (Εds) Migration theory: Talking across disciplines. New York: Routledge. (97–136).

Bulmer, M. (1984). The Chicago School of Sociology: Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research. Chicago: University of Chicago Press.

Carnicer, J.A. (2019). Transnational migration and educational opportunities: A case study of migration from Brazil to Germany. London Review of Education, 17 (1). (14–25).

Eades, J. (Ed.) (1987). Migrants, Workers and the Social Order. London: Tavistock Publications.

Green, N. L. (2004). Repenser les migrations. Paris: PUF [in Greek].
Horevitz, E. (2009). Understanding the Anthropology of Immigration and Migration. Journal of Human Behavior in the Social Environment, 12 (6). (745- 758).

Iredale, R. & Fox, Chr. (1997). The Impact of Immigration on School Education in New South Wales, Australia. The International Migration Review, 31(3). (655-669).

Levitt, P. (2009). Roots and Routes: Understanding the Lives of the Second Generation Transnationally. Journal of Ethnic and Migration Studies, 35(7). (1225–1242).

Moll, L., C. (2010). Mobilizing culture, language, and educational practices: fulfilling the promises of “Mendez” and “Brown”. Educational Research, 39(6). (451–460).

Reed-Danahay, D., & Brettell, C. B. (Eds.), (2008). Citizenship, Political Engagement, and Belonging.  New Brunswick: Rutgers University Press.

Vertovec, St., (2010). Introduction: new directions in the anthropology of migration and multiculturalism. In Vertovec, St. (Ed.) Anthropology of Migration and Multiculturalism: New Directions. New York and London: Routledge. (1–17).

Werbner, R., P. (1984). The Manchester School in South-central Africa. Annual Review of Anthropology, 13. (157–185).

Werbner, Pn., Yuval-Davis, N., (1999). Introduction: women and the new discourse of citizenship. In Werbner, Pn., Yuval-Davis, N. (Eds.), Women, Citizenship and Difference. London and New York: Zed Books. (1–38).

Autor*innen

Ioannis Manos, Georgia Sarikoudi (Griechenland)

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