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Multikulturalismus

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Warum diesen Text lesen…
Sie sollten den Text lesen, wenn Sie sich für die Ursprünge des Begriffs „Multikulturalismus“ und seine Bedeutungen im Laufe der Geschichte interessieren. Darüber hinaus behandelt der Text Strategien für den Versuch, Gleichberechtigung in einer multikulturellen Gesellschaft oder einem multikulturellen Bildungssystem herzustellen.
Multikulturalismus bezieht sich auf eine Reihe von gesellschaftspolitischen Ideen und Maßnahmen für den Umgang mit Vielfalt und Differenz innerhalb einer Gesellschaft und ist eng mit dem Themenkomplex Integration verbunden. Ursprünglich wurde er in Kanada in den 1980er Jahren von Philosophen (wichtige Namen wären hier z.B. Charles Taylor, James Tully oder Will Kymlicka) entwickelt, die dafür eintraten, dass Angehörige von minorisierten Gruppen nicht gezwungen werden sollten, sich der Mehrheitsgesellschaft anzuschließen, sondern dass sie genügend Raum und Rechte erhalten sollten, um selbstbestimmt zu leben und gleichzeitig die gegenseitigen Unterschiede anzuerkennen und zu würdigen. Dies kann durch antidiskriminierende und differenz-sensitive Maßnahmen in verschiedenen staatlichen Institutionen, wie z.B. Schulen, erreicht werden. Die einzelnen Ansätze können sich im Detail jedoch auch widersprechen: So beziehen sich einige nur auf kulturelle, ethnische und religiöse Aspekte, andere auch auf Kategorien von Differenz wie Klasse, Geschlecht oder Sexualität. Die Auslassung dieser, wie auch anderer Themen, wie z.B. ein zugrundeliegender statischer Kulturbegriff, wurde oft kritisiert und thematisiert. Nichtsdestotrotz bot und bietet der Multikulturalismus eine mehr oder weniger praktikable Alternative zu der weit verbreiteten Vorstellung vom "Schmelztiegel / Melting Pot" aus den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welcher das "Verschmelzen" verschiedener Gruppen miteinander hin zu einer homogenen Nation favorisiert wurde.

Geschichte
Bevor der Begriff in Kanada um 1960 erstmals auftauchte, beschäftigten sich andere "klassische Einwanderungsländer" wie die USA und Australien schon lange damit, wie man mit der zunehmenden (kulturellen) Vielfalt und Migration in Zeiten der Globalisierung umgehen kann. Wie bereits beschrieben wird in den USA seit der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Metapher des Schmelztiegels verwendet, um den Umgang mit Migrant*innen zu beschreiben. Die Kernidee hierbei war es, sie an die Mehrheitsgesellschaft anzugleichen, so dass ihre kulturellen Unterschiede im Laufe der Zeit verschwinden und eine möglichst homogene Gruppe von Menschen gebildet werden konnte (Bienfait 2006:11).
In den 1980er Jahren setzte der kanadische Theoretiker Charles Taylor als erster das Konzept des Multikulturalismus als offizielle Politik in Kanada und im Gegensatz zum Schmelztiegel durch. In Taylors Idee eines "multikulturellen Mosaiks" (geläufig ist auch das Bild der "Salatschüssel") wird jede "Kultur" in einem Mosaikstein verkörpert, der zu einem größeren Ganzen gehört, aber gleichzeitig in seiner Besonderheit erhalten bleibt. Die einzelnen "kulturellen Merkmale" sollten von der Zentralregierung gegenseitig anerkannt, geschätzt (nicht nur symbolisch) und wahrgenommen werden (siehe ebd.: 65f). In dieser "Politik der Anerkennung" steht das Streben nach Authentizität der Durchsetzung der Unterordnung und Assimilierung unter eine dominante Leitkultur entgegen (vgl. ebd.: 70).
Ein weiterer bekannter kanadischer Theoretiker, James Tully, geht sogar noch weiter als Taylor und ist der Überzeugung, dass nur durch die öffentliche/institutionelle Anerkennung ein Gefühl der Zugehörigkeit überhaupt entstehen kann. Ein anderer Philosoph, Will Kymlicka, betont die inhärente Natur des Multikulturalismus und plädiert für eine stärkere Berücksichtigung gruppenspezifischer Bedürfnisse. Mit diesem Konzept des "liberalen Multikulturalismus" schlägt er vor, die individuellen Rechte jedes Bürgers durch bestimmte Gruppenrechte (für indigene Gruppen, Migrant*innen und andere minorisierte Gruppen) zu erweitern (siehe ebd.: 87ff).

a) Diskussion
Wie bereits angedeutet, bedeutet das Konzept des Multikulturalismus nicht für jeden das Gleiche, sondern wurde und wird von verschiedenen Menschen, Institutionen sowie lokalen und nationalen Kontexten unterschiedlich verstanden und verwendet. Die oft starre Definition von "Kultur" war in der Tat ein wesentliches und oft thematisiertes Problem des Multikulturalismus. Kultur wird als etwas in sich geschlossenes, homogenes und nach außen Gerichtetes verstanden, welches an ein Territorium gebunden ist und Träger*innen durch und durch bestimmt und determiniert. Idealerweise zielt ein progressiver Multikulturalismus nicht immer auf Chancengleichheit entlang "kultureller" oder ethnischer Unterschiede ab, sondern berücksichtigt auch andere Gruppen oder Kategorien von Unterschieden wie Geschlecht, Klasse, Geschlecht, Religion, Sexualität, besondere Bedürfnisse usw., einschließlich der Unterschiede innerhalb einer Gruppe (siehe Intersektionalität).
Hier setzt zwar auch eine liberale feministische Kritik an, z.B. vertreten durch Susan Moller Okin, die betont, dass vor allem Frauen (aber auch Kinder oder lesbische und schwule Vertreterinnen) unter den Traditionen nicht-westlicher "fremder Kulturen" leiden und durch Sonderrechte vor Praktiken wie dem Kopftuch, arrangierten Ehen oder Polygamie geschützt werden sollten. Diese Ansicht wurde jedoch mit einiger Kritik aufgenommen. Problematisch ist, dass moralisch verwerfliche Praktiken (z.B. Gewalt gegen Frauen) im Fall der "fremden Kultur" in erster Linie der Kultur selbst, der Tradition oder der Religion zugeschrieben werden, während sie in der eigenen Gesellschaft nur mit der pathologischen oder einfach abweichenden Natur eines Individuums in Verbindung gebracht werden (vgl. Heins 2013:110).
Auch im schulischen Kontext gibt es keinen festen Ansatz zum Umgang mit der Diversität, sondern verschiedene theoretische und praktische Ansätze, die teilweise auch widersprüchlich sein können (Leistyna 2002:9). Ein Bildungsmodell, das seit dem Beginn der Masseneinschulung existiert, ist das der Assimilation. Dabei geht es vor allem um die Anpassung von Schüler*innen mit unterschiedlichem kulturellem und sprachlichem Hintergrund an die Anforderungen einer Schule und der Mehrheitsgesellschaft (siehe Schmelztiegel-Theorie) mit dem Ziel, für den nationalen Arbeitsmarkt verwertbar zu sein. Eines der Hauptanliegen eines kritischen multikulturellen Bildungsmodells ist das Verständnis von Unterschieden aller Art als potenzielle Ressourcen, die nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert werden müssen, wie z.B. die Mehrsprachigkeit (siehe Kalantzis & Cope 1999:281).

b) Praktisches Beispiel
In einer öffentlichen Schule in Changlet (USA) wurde 1993 ein neues multikulturelles Experiment gestartet. Nach vielen Versuchen, langjährige Probleme wie kulturelle Segregation, Klassenhierarchien und Diskriminierung sowie Drogenmissbrauch, Gewalt und eine hohe Abbrecherquote anzugehen, entstand eine Kommission von 17 Freiwilligen: Lehrer, Direktoren und Spezialisten, die sich "Central Steering Committee" (CSC) nannten und später auch zusätzliche Untergruppen bildeten. Ihr erklärtes Ziel war es, durch multikulturelle Strategien die Bedingungen in den Schulen für die Schüler*innen und ihre Eltern und Gemeinden zu verbessern. Viele Beschlüsse wurden auf den Weg gebracht, wie unter anderem den Lehrplan neu zu gestalten, das Schulpersonal zu sensibilisieren und zu diversifizieren, Eltern und Gemeinden intensiver in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und durch regelmäßige Berichte mehr Öffentlichkeit zu erreichen. So wurde beispielsweise der zweisprachige Unterricht auf mehr Fächer ausgeweitet, die spezifischer auf die Geschichte bestimmter Länder und "Kulturen" eingehen und Feste aus anderen Regionen der Welt feiern, vor allem Aktivitäten, die die Aufmerksamkeit auf das Thema Multikulturalismus und Vielfalt lenken (ebd.: 172f). Häufig wurde jedoch ein Kulturbegriff verwendet, der Gruppen als geschlossene Einheit darstellte und so weitere Essentialisierungen mit sich brachte.
In einer Analyse der ersten drei Jahre der Forschung kam der Autor der Studie (Leistyna 2002) zu folgendem Ergebnis: Trotz hoher Ambitionen und Anstrengungen der Beteiligten konnte das Projekt im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten und Feindseligkeiten nicht viel erreichen. Dennoch zeigt die Untersuchung von Leistyna die Themen auf, die den Problemen zugrunde liegen und bietet damit die Möglichkeit, diese in Zukunft besser zu berücksichtigen und ihnen entgegenzuwirken. Gleichzeitig zeigt dies die Notwendigkeit eines zeitgemäßen und progressiven Multikulturalismus auf, der Platz für die Unterschiede innerhalb von Gruppen lässt sowie die Mehrschichtigkeit von Identitäten und Kategorien mithilfe einer intersektionalen Perspektive anerkennt. Abschließend kann hier nur auf Weiterentwicklungen verwiesen werden, z.B. auf transkulturelle Ansätze (Welsch 2017) oder das Konzept der hybriden Identitäten (Bhaba 2012).

Weiter denken

  • Was ist Ihr persönliches Verständnis von Multikulturalismus? Was sind Vorteile und Gefahren/Grenzen?
  • Gibt es, und wenn ja, welche, multikulturelle Praktiken und/oder Politiken in Ihrer Schule? Kann das Konzept des Multikulturalismus in Schulen hilfreich sein?
  • Wie kann ein konstruktives Konzept des Multikulturalismus in der Bildung aussehen?
  • Was bedeutet Kultur für Sie?
  • Glauben Sie, dass Ihr Verständnis von Kultur in einem anderen kulturellen Kontext anderswo akzeptiert wird? Wenn ja, warum?
  • Braucht man spezifische Kompetenzen oder spezifische kulturelle Praktiken, um sich in eine Gesellschaft einzufügen?
  • Welches Konzept der Gesellschaft akzeptieren Sie? Geht es immer darum, sich "einzufügen"?

Stichwörter / Querverweise
Reflexivität, Doing School, Intersektionalität,

Quellen
Bhaba, H. (2012). Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Wien/Berlin: Turia + Karl.
Bienfait, A. (2006). Im Gehäuse der Zugehörigkeit. Eine kritische Bestandsaufnahme des Mainstream-Multikulturalismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Heins, V. (2013). Der Skandal der Vielfalt: Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus. Frankfurt am Main: Campus
Kalantzis, M., Cope, B. (1999). Multicultural Education. Transforming the mainstream. In: Baumann, G., Vertovec, S. (Ed.). (2011). Multiculturalism: Critical Concepts in Sociology (3). Abingdon. (262-296).
Leistyna, P. (2002). Defining & Designing multiculturalism: one school system’s efforts. Albany: State University of New York Press.
Okin, S.M. (1999). Is Multiculturalism Bad for Women? In: Baumann. G., Vertovec, S. (Ed.). (2011). Multiculturalism: Critical Concepts in Sociology (3). Abingdon. (346-359).
Welsch, W. (2017). Transkulturalität: Realität – Geschichte – Aufgabe. Wien: New Academic Press.

Autor*innen:
Elena Kozyrava & Jelena Tosic & Christa Markom (Österreich)

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