Warum diesen Text lesen…
Dieser Text wird für Sie von besonderer Relevanz sein, wenn Sie sich für den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht interessieren. Wahrscheinlich haben Sie auch Kinder oder Jugendliche in Ihrer Klasse oder Menschen aus ihrem Umfeld, die Sie kennen, die eine andere Erst- oder Zweitsprache als Sie selbst haben. Die Sozial- und Kulturanthropologie beschäftigt sich unter anderem mit Diversität und der Wahrnehmung des "Anderen" - so auch mit Sprache. In diesem Sinne kann der folgende Text womöglich Ihre Perspektive auf das Thema bereichern.
Geschichte
In den 70er und frühen 80er Jahren wurde eine praktikable Theorie im Feld der Lerntheorien entwickelt, die Theorie der Sprachsozialisation (Language Socialization - LS). Sie steht in enger Beziehung zu anderen Lerntheorien, da Sprache ein integraler Bestandteil des Lernens ist und eng mit kulturellen Praktiken verbunden ist. LS beschäftigt sich mit der Frage, wie Sprache unsere sozialen Beziehungen formt, wie die Sozialisierung durch Austausch- und Reproduktionsprozesse verläuft und wie soziale Identitäten durch Sprache geformt werden. Weiterhin wird untersucht, wie Lernen und kulturelle Bedeutungen oder Praktiken geformt und vermittelt werden.
Eine wichtige Erkenntnis der Studien mit einem LS-Ansatz war, dass sie einen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch, sozialem Hintergrund und der Schule zeigen konnten. So argumentierte Bernstein 1974, dass Schulen Orte der Reproduktion sozialer Ungleichheiten sind, weil die Schüler*innen zu Hause ein unterschiedliches Sprachumfeld haben. Er unterschied zwischen dem "elaborierten Code" und dem "restringierten Code". Dies sind zwei Varianten der jeweiligen nationalen Sprache und beschreiben verschiedene Arten sich auszudrücken – während der restringierte Code eher in Bekanntschafts- oder Familienkommunikation benutzt wird bedeutet der elaborierte Code eine detaillierte und genauere Ausformulierung von Sachverhalten, Gefühlsäußerungen und Meinungen. Der elaborierte Code ist gesellschaftlich höher angesehen. Nachdem die Schule tendenziell diesen fördert, ist es beispielsweise für Kinder aus der Arbeiterklasse und damit mit einem anderen sozialen und sprachlichen Hintergrund viel schwieriger, den Unterricht zu besuchen. Durch die Legitimierung nur einer gewünschten Ausdrucksart und die Negierung der Unterschiede zwischen Heim und Schule werden Ungleichheiten im Unterricht reproduziert. Dies gilt gleichermaßen für alle Schüler*innen, die eine andere Muttersprache sprechen, als die in der Schule vorherrschende.
a) Diskussion
Fast die gesamte Bildung und Erziehung wird über die Sprache vermittelt. Die Sprache ist daher ein integraler Bestandteil des Lernens und eng mit der kulturellen Praxis verbunden. Kinder und Jugendliche, die mit zwei oder mehr Sprachen als der "ersten Sprache" aufgewachsen sind, sind in Bildungseinrichtungen verbreitet. Dies eröffnet Chancen, denn die Idee, dass jede Sprache als eine wertvolle Ressource angesehen wird, hat sich inzwischen weit verbreitet, aber diese mehrsprachigen Kompetenzen werden oft nicht genutzt. Diejenigen sozialen Akteure im Bildungswesen, die diese Ressource im positiven Sinne nutzen und fördern wollen, sehen sich jedoch oft mit unzureichender Anleitung und Unterstützung oder gegensätzlichen Ideologien konfrontiert. Tatsächlich sind im Bildungssystem immer noch hegemoniale Strukturen vorherrschend, die zwischen "guten" und "schlechten" Sprachen unterscheiden oder den Angehörigen anderer Sprachgruppen Voraussetzungen und Werte vermitteln. Machtstrukturen und Ungleichheiten werden oft systematisch durch die Sprache in der Bildung geschaffen oder durchgesetzt und berauben Teile der Bevölkerung der gleichberechtigten Teilhabe an Bildung und Chancen sowie der Zuordnung von Sprachgruppen zu bestimmten Zuschreibungen und Werten.
Obwohl Kinder aus mehrsprachigen Familien oft über ein großes Repertoire an kulturellen und sprachlichen Fähigkeiten verfügen, weil sie in unterschiedlichen Kontexten aufwachsen, werden die meisten dieser Ressourcen nicht genutzt. Dies zeigen auch eine Reihe von Studien in den USA über Student*innen mit lateinamerikanischem Hintergrund und andere sprachliche Minderheiten. Institutionelle Erwartungen und Reaktionen auf Personen einer bestimmten Herkunft erschweren oft die sprachliche Entwicklung und Ausbildung. Sprachliche Ideologien formen Einstellungen gegenüber Schüler*innen und schränken die Fähigkeiten der Kinder von Anfang an ein, z.B. weil sie der Arbeiterklasse und den damit verbundenen Erwartungen zugeordnet sind.
Eine in den USA durchgeführte ethnographische Studie an einer Highschool zum "English as a Second Language Program" (ESL) hat herausgefunden, dass Lateinamerikaner*innen ihren Besuch von speziellen Sprachkursen nicht auf ihre sprachlichen Defizite zurückführen, sondern eher als eine Einschätzung ihres Hintergrunds und ihrer Muttersprache und damit als Zeichen ihrer mangelnden intellektuellen Fähigkeiten ansehen. Gleichzeitig zeigen viele Lehrer in diesen Klassen Frustration sowie negative Einstellungen und Annahmen, dass die Schüler nicht motiviert, faul und undankbar sind. Dies spiegelt sich auch in einer anderen Studie aus dem Jahr 2008 wider, die dokumentiert, dass Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund im Durchschnitt doppelt so lange in solchen Programmen bleiben wie weiße oder asiatische Schüler. Kurse, die sich auf Defizite konzentrieren und daher mit einem Etikett (Englisch als Zweitsprache) versehen sind, können daher einige problematische Auswirkungen auf die Student*innen haben, da diese oft keine positive Identität mit diesem Merkmal aufbauen können.
b) Praktisches Beispiel
Im Rahmen einer Studie von Creese & Dewilde (2016) wurde die ethnographische Methode des "Discursive Shadowing" benutzt und kann als Beispiel für wichtige anthropologische Methoden angeführt werden. Diese vermag strukturelle Probleme im Alltag von Lehrer*innen im Allgemeinen und in der Betreuung fremd- und / oder mehrsprachiger Schüler*innen vor Ort erklären, die normalerweise nicht sichtbar wären. Der/die Forschungsbeteiligte, im konkreten Fall ein zweisprachiger Begleitlehrer, trägt in der Schule für einen längeren Zeitraum (in diesem Fall für ein Jahr) ein Mikrofon und einen Audio-Recorder und zeichnet alles auf, was passiert, während der/die Forscher*in ihm durch teilnehmende Beobachtung an verschiedene Orte und Situationen folgt.
Mohammed, ein zweisprachiger Begleitlehrer, war für somalische Schüler der unteren Klassen in Ullstad, Norwegen, zuständig, die sich zwischen acht Monaten und fünf Jahren in Norwegen aufhielten und wenig formale Bildung hatten. Typische Situationen, mit denen er bei seiner Arbeit konfrontiert wurde, waren, dass diese Schülerinnen und Schüler vor einem Test in Mathematik flohen oder nicht erschienen, weil sie Angst hatten, durchzufallen, oder weil sie die Aufgaben nicht verstanden. Mohammed besprach diese Fälle mit den Schülern, die er später in der Schule zu finden versuchte und schließlich auf dem Flur oder bei dem Forscher fand, aber nie bei einem der regulären Lehrer. Letztere zeigten kein Interesse am Verständnis der Gründe oder an der Problemlösung, sondern beschäftigte sich ausschließlich mit den "normalen" Schülern. Versuche, den Schülern zu helfen, wie z.B. Muhammads Anfrage, ob sie für den Test ein Wörterbuch zum Verständnis der Fragen verwenden dürfen, wurden abgelehnt, obwohl dies im zweisprachigen Unterricht eine legitime Methode ist.
Diese Studie zeigt eindrücklich, wie trotz der angemessenen Politik, begleitende Lehrer*innen zur Unterstützung der fremdsprachigen Schüler einzusetzen, die Umsetzung oft unangemessen ist, weil einerseits schulinterne Machtstrukturen bestehen (die Kluft zwischen den regulären Lehrer*innen und den Begleitlehrer*innen), die Arbeit vernachlässigt wird und es andererseits an geeigneten Anweisungen und gemeinsamen Vorgehensweisen fehlt. Dieses Beispiel lässt sich exemplarisch auch auf andere nationale Bildungssysteme ausweiten, sicherlich auch für den deutschsprachigen Raum. In diesem Sinne gilt es, das Bewusstsein für Multilingualismus auf institutioneller Ebene als auch in den Alltagssituationen innerhalb von Schulen und in den Köpfen der Beteiligten selbst zu schärfen. Sowohl in der Anerkennung der Lebenswelt und der Bedürfnisse multilingualer Schüler*innen als auch das nachfolgende Nutzen als wertvolle Ressource kommt Lehrer*innen eine zentrale Rolle wie auch Verantwortung zu.
Weiter denken
Stichwörter / Querverweise
Doing School, Reflexivität, Informelles und Formelles Lernen,
Quellen
Bequedan-Lopez, P., Hernandez, S J. (2011). Language Socialization across Educational Settings. In Levinson, B. A. U. / Pollock, M. (Ed.), A Companion to the Anthropology of Education. Chichester: Wiley-Blackwell. (197-211).
Creese, A., Dewilde, J. (2016). Discursive Shadowing in Linguistic Ethnography. Situated Practices and Circulating Discourses in Multilingual Schools. In Anthropology & Education Quarterly 47 (3). (329-339).
Draxl, A.-K. (2013). Der Wert von Sprachen: Fragen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext. In Binder, S., Klien, H., Kössner, E. (Ed.): Wenn KSA zur Schule geht: Kultur- und Sozialanthropolog_innen im Bildungsbereich zwischen Forschung und Praxis. Konferenzbericht: 8. Tage der Kultur- und Sozialanthropologie 2013. In Austrian Studies in Social Anthropology. Sondernummer KSA-Tage 2013, 27. (7-11).
https://www.univie.ac.at/alumni.ksa/assa/ausgaben/assa-ksa-tage/ksa-tage-2013/wenn-ksa-zur-schule-geht/ (31.01.2020 16:00).
McCarty, T. L., Warhol, L. (2011). The Anthropology of Language Planning and Policy. In Levinson, B. A. U., Pollock, M. (Ed.), A Companion to the Anthropology of Education. Chichester: Wiley-Blackwell (177–190).
Mulsbary, C. (2014). „Will this hell never end? “: Substantiating and Resisting Race-Language Policies in a Multilingual High School. Anthropology & Education Quarterly 45 (4). (337-390).
Ryes, A., Wortham, S. (2011). Linguistic Anthropology of Education. In Levinson, B. A. U., Pollock, M. (Ed.), A Companion to the Anthropology of Education. Chichester: Wiley-Blackwell (137–153).
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