Der Begriff Othering beschreibt den Prozess, bei dem ein Individuum oder eine Gruppe von einem Individuum oder einer Gruppe von anderen Individuen oder Gruppen als verschieden gekennzeichnet wird bzw. deren Andersartigkeit betont wird und dementsprechend einer anderen sozialen Gruppe zugeschrieben wird. Das "Selbst" ist hierbei der Bezugspunkt und so werden diejenigen, die dieser Norm nicht entsprechen, als "Andere" gekennzeichnet. Oft geht dies auch mit negativen Zuschreibungen von Minderwertigkeit, Inkompatibilität oder Irrationalität des oder der "Anderen" einher.
Im Bildungsbereich ist der Akt des Othering die Differenzierung der Schüler*innen auf der Grundlage unterschiedlicher (z.B. Sprache, soziale Klasse und Religionszugehörigkeit, nationale Herkunft und/oder biologischer) Merkmale. Degradierende Spitznamen oder Schikanen aufgrund von unterschiedlichen Familienkontexten sind Beispiele für solche Fälle. Ähnlich verhält es sich mit Lehrer*innen, die Schüler*innen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität als abweichend betrachten und dies diskriminierende Auswirkungen hat. Proteste von Eltern gegen Kinder mit Migrationserfahrung, die das Recht auf Schulbildung erhalten haben, sind ein weiteres Beispiel.
Das Konzept des Othering hat eine lange Geschichte in der Wissenschaft, neben der Anthropologie wurde es besonders in der Philosophie, der Psychologie und in den Postkolonialen Studien diskutiert. Es ist Teil des wissenschaftlichen Versuchs, den Prozess der Identifikation und Kategorisierung zu verstehen. So kann die Konstruktion von "Selbst" und "Anderen" in sozialen Interaktionen sowohl in- als auch exkludierende Effekte haben. Damit ist der Prozess des Othering ein grundlegender Faktor bei der Schaffung und Bekräftigung des eigenen Selbstbildes. Das "Andere" ist das Gegenüber, das vom "Selbst" geschaffen wird, damit es definiert werden kann (San Martín 2017). Aus feministischer Perspektive bezieht sich Othering oft auf das, was es bedeutet, "eine Frau zu sein". Da die Domäne des Männlichen - Sichtweisen, Erfahrungen, Praktiken - oft als Normalität gilt, befinden sich Frauen oft in einer untergeordneten gesellschaftlichen Position (De Beauvoir 1949).
In der Kolonialzeit rechtfertigte die Praxis des Othering die physische Beherrschung und Dominanz von kolonisierten Gruppen durch den "Westen". Nicht-europäische/nicht-westliche Länder werden im Vergleich dem "Westen", der als das maßgebliche Zentrum der Welt gilt, entgegengestellt - eben nicht-europäisch/-westlich etc. Als gut dokumentiertes Beispiel für solch eine Othering-Praxis sticht der Orientalismus hervor. Dieser beinhaltet ein Bild der Welt, das die Kultur, Werte, Lebensweisen und Institutionen des Nahen Ostens, besonders des muslimischen Teils, im Hinblick auf den „zivilisierten Westen“ als untergeordnet definiert (Said 1978).
In der heutigen Zeit zunehmender Migration und vermehrter Konflikte betrifft der Prozess des Othering die Beziehungen zwischen minorisierten und majorisierten Gruppen und beinhaltet oft Ansprüche auf die richtige Lebensweise. In diesem Zusammenhang betonen Othering-Prozesse die vermeintlichen "kulturellen" oder "biologischen" Unterschiede, auf deren Grundlage verschiedene Gruppen identifiziert werden können. Diese werden als Beweis für Differenz angesehen (Benhabib 2002). Somit führen Othering-Prozesse zu negativen Zuschreibungen, die sehr reale Auswirkungen haben können, wie zum Beispiel ökonomische oder politische Benachteiligung (Wilson & Mitchell 2003).
Anthropologisch gesehen beschreibt Othering eine Form von "Etikettierung", eine Reduktion der Person/Gruppe auf selektive soziale Kategorien. Der Begriff der Kultur ist hier der Dreh und Angelpunkt zur Schaffung des "Anderen" (Abu-Lughod 1991).
Diese Klassifizierung von Personen und Gruppen in "Andere" und "Eigene" wurde schon von dem Soziologen Emile Durkheim und Mauss in ihrem berühmten Buch „Primitive Classification“ (2009 [1903]) untersucht. Die Kernidee des Buches ist, dass Denkmuster nicht naturgegeben sind sondern ein Resultat der jeweiligen gesellschaftlichen Organisationsform sind. So produzieren verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Arten des Denkens und Verständnisses der sozialen Welt und des "Selbst" und des "Anderen". Später im 20. Jahrhundert vertrat Lévi-Strauss (1955) die Ansicht, dass die Menschen zwei Strategien im Umgang mit dem "Anderen" haben: Sie integrieren sie, indem sie Abgrenzung zwischen ihnen verringern, oder sie schließen sie aus, indem sie Abgrenzungen begründen und sie so auf Distanz halten.
Somit heißt Othering auch immer Hierarchisierung. Oft wurde dies als eine Form der politischen Ausgrenzung aufgefasst, die durch Ideologien erzeugt und durch soziale Institutionen erhalten wird. Dieser Prozess beinhaltet soziale sowie politische Machtasymmetrien und Exklusionsprozesse und ist Merkmal jedes sozialen Systems (Jenkins 1996). Michel Foucault hat argumentiert, dass wir, wenn wir eine Gruppe als die "Andere" bezeichnen, auf ihre wahrgenommenen Schwächen hinweisen, um eine Beziehung zwischen Untergeordneten und Übergeordneten herauszustellen. Die dominante Gruppe ist in der Lage, dem "Anderen" ihre Stärke und Überlegenheit aufzuzwingen und sie gleichzeitig abzuwerten (Foucault 2000).
Eine Studie von Nilsen, Fylkesnes & Mausethagen (2017), untersucht, wie norwegische Lehrerausbilder*innen während eines Pflichtkurses für angehende Lehrer*innen das Thema kulturelle Diversität lehren. Die Studie stellt fest, dass die Lehrerausbilder*innen von "kultureller Vielfalt" als etwas sprechen, das nur die "Anderen" betrifft. Die "Anderen" sind die Schüler*innen und Eltern, die sich von den Lehrerausbilder*innen dadurch unterscheiden, dass sie eine andere Herkunft, Sprache, Migrationsgeschichte und Religion haben und so sozial unterschiedlich sind (ebd. 43).
Die Autor*innen beschreiben diese Praxis der Darstellung als eine sprachliche Praxis des Othering, in der das "Gewöhnliche" mit dem Eigenem und das "Ungewöhnliche" mit dem Anderem assoziiert wird und so Kontraste geschaffen werden (ebd. 44). Othering findet sich besonders in den genannten Aspekten Aspekten wie Mehrsprachigkeit, Migration, Nationalität und Religion (ebd. 48). So kommt die Studie zu dem Schluss, dass diese Form von Lehrer*innenausbildung nachfolgend zur sozialen Ausgrenzung von Schüler*innen führen kann (ebd. 42). Die Sensibilisierung über die Art und Weise, in der Schüler*innen in der Gesellschaft "othered" sind, d.h. als andersartig gekennzeichnet werden, ist ein wichtiges Instrument im Umgang mit ungleichen Machtverhältnissen. Dies kann zur Förderung von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit in demographisch vielfältigen Gesellschaften beitragen (ebd. 48).
In einer weiteren Studie (Borero et. al. 2012) werden Schulen als Orte untersucht, die die Macht haben, Jugendliche durch Othering-Prozesse davon abzuhalten, positive Selbstbilder zu entwickeln, obwohl sie dies eigentlich fördern könnten. Die Basis sind Erfahrungen sowie Narrative von einheimischen hawaiianischen Jugendlichen sowie Lehrer*innen von diesen in städtischen öffentlichen Schulen auf Hawaii (ebd. 8ff). Hier ist Othering gekennzeichnet durch eine persönliche, soziale, kulturelle und historische Erfahrung, die mit einer rassistischen Etikettierung einhergeht und eine Diskriminierung zur Folge hat. Die Dynamik des schulischen Umfelds offenbart das ganze Spektrum an multiplen Identitäten, Stereotypen, Rassismus, und Bewältigungsstrategien im Kontext mit Othering-Erfahrungen in der Schule (ebd. 3-6). Die Studie betont die Notwendigkeit, dass Pädagog*innen Möglichkeiten bieten müssen, solchen Marginalisierungserfahrungen entgegenzuwirken und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Die Identitätsbildung sollte durch Bildungsmöglichkeiten und Interaktionen gefördert und unterstützt werden. Letztlich muss einem positiven Umgang mit Diversität im sozialen Umfeld Priorität eingeräumt werden, was dazu beiträgt, Schulen in Orte zu verwandeln, die positive Selbstbezüge ermöglicht und nicht verhindert (ebd. 16ff).
Klassifizierung, Macht, Identität, Differenz, Doing School, Kultur, Ethnozentrismus
Abu-Lughod, L. (1991). Writing Against Culture. In R.G. Fox (ed.) Recapturing Anthropology: Working in the Present. Santa Fe, NM: School of American Research Press. (137-162).
Benhabib, S. (2002). The Claims of Culture: Equality and Diversity in the Global Era. Princeton and Oxford: Princeton University Press.
Borrero, N. E., Yeh, Chr. J., Cruz Cr. I., Suda Jolene F. (2012). School as a Context for “Othering” Youth and Promoting Cultural Assets. Teachers College Record, 114. (1-37).
de Beauvoir, S.. (1989, [1952]) The second sex. New York: Vintage Books.
Durkheim, E., & Mauss, M. (2009 [1903]). Primitive Classification. London: Routledge.
Foucault, M. (2000a). Governmentality. Ιn J.D. Faubion (Ed.) Power. Essential Works of Foucault, 1954-1984, vol. 3, New York: New Press. (201-222).
Foucault, M. (2000b). Subject and Power. Ιn J.D. Faubion (Ed.) Power. Essential Works of Foucault, 1954-1984, vol. 3, New York: New Press. (326-348).
Jenkins, R. (1996). Social Identity. London: Routledge.
Lévi-Strauss, C. (1955). Tristes tropiques. Harmondsworth: Penguin.
Nilsen, A. B., Fylkesnes, S., & Mausethagen, S. (2017). The linguistics in othering: Teacher educators’ talk about cultural diversity. Reconceptualizing Educational Research Methodology, 8(1). (40-50).
Said, E. 1978. Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul.
San Martín, J. (2017). Phenomenology and the Other: Phenomenology Facing the Twenty-First Century. In Walton R., Taguchi S., Rubio R. (Eds) Perception, Affectivity, and Volition in Husserl’s Phenomenology. Phaenomenologica. vol 222. Cham: Springer. (179-195).
Wilson, R., A. & Mitchell, J., P. (2003). (Eds), Human Rights in Global Perspective: Anthropological Studies of Rights, Claims and Entitlements. London and New York: Routledge.
Ioannis Manos, Georgia Sarikoudi (GREECE)
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