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Policy

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Zunächst einmal ist der englische Begriff Policy weit gefasst und meint im Allgemeinen Maßnahmen, Vorgehensweisen und Strategien im politischen, aber auch in nicht direkt politischen Bereichen des sozialen Lebens.
Der Begriff wird in der Anthropologie als ein soziokulturelles Phänomen verstanden, das als Instrument von Machtausübung genutzt wird. Das Konzept bezieht sich häufig auf Regierungsformen, die von Institutionen, Behörden und politischen Entscheidungsträger*innen ausgeübt werden.  So umfasst es Formen der Kontrolle und Regulierung des gesellschaftlichen Lebens (z.B. Beschäftigung, Bürgerrechte, Bildung usw.) sowie ideologische Überzeugungs-, Zwangs- und Gewaltmechanismen (Wedel et al. 2005).
Anthropologische Studien zu Policy im Bildungsbereich beschreibt die Funktionsweise als sozialen, kulturellen und ideologischen Prozess. Bildung ist nie "einfach nur da", sondern basiert auf Strategien und Zielen von dem was vermittelt werden soll und was nicht. Mit dem Begriff der Policy lässt sich hier untersuchen, wie Formen und Praktiken der Schulbildung geschaffen werden und von gesellschaftlichen Gruppen verhandelt werden. Ferner veranschaulicht das Konzept, die Wichtigkeit des sozialen und politischen Kontextd für das Funktionieren des Bildungssystems (Castagno & McCarty 2017).

Historischer Kontext

Die Auseinandersetzung von Policy ist ein neuerer Forschungszweig der Anthropologie (Wright 2006). Hier wurde schon früh auf die Bedeutung des Konzepts für das Verständnis von Gesellschaft hingewiesen (Shore & Wright 1997). Sie zeigten auf, dass weite Teile des sozialen Lebens, insbesondere in westlichen Gesellschaften und zunehmend in der ganzen Welt, unter dem Begriff der Policy organisiert sind (ebd.: 6). Weiterhin betonten, dass Policy ein Machtinstrument ist und das Möglichkeiten zur Analyse größerer gesellschaftlicher Machtstrukturen bietet. Ihrer Ansicht nach sollten in die Untersuchung von Policy alle Institutionen von der internationalen bis zur lokalen Ebene, die Menschen, die Verfahren und die relevanten Texte, die Aspekte des gesellschaftlichen Lebens regeln, einbezogen werden. In diesem Sinne konzentrierten sie sich nicht nur auf Regierungspolitik, sondern vielmehr auf die verschiedenen Standpunkte von Regierenden und Regierten. Die Untersuchung von Policies als soziale und kulturelle Konstruktionen ist eine Möglichkeit, Einblicke in politische Transformationsprozesse zu gewinnen.
Shore (2012: 92-93) hat die Nuancen des Konzepts der Policy, wie sie in der Anthropologie untersucht werden, weiter ausgearbeitet. Anthropologische Darstellungen veranschaulichen, wie Policy in verschiedenen Kontexten wahrgenommen wird und wie Menschen Policy-Prozesse erleben, interpretieren und sich mit ihnen auseinandersetzen. Obwohl der Begriff oft einen top-down-Prozess darstellt, verdeutlichen ethnographische Studien die diesen Prozessen innewohnende Mehrdeutigkeit, Kontroverse, Verhandlung und Fluidität (ebd.: 92).  
Das Verständnis der Gestaltung und Umsetzung von Policy beinhaltet eine Untersuchung der Rahmenbedingungen, in die Policies eingebettet sind, wie und warum bestimmte Policies "Erfolg" oder "Misserfolg" haben und wie Policy-Ergebnisse von den Menschen, deren Leben sie beeinflussen, interpretiert werden. Policies umfassen eine Symbolik, deren Bedeutung kulturspezifisch und kontextdefiniert ist.
Insgesamt ist die Anthropologie bei der Untersuchung von Politik daran interessiert, Antworten auf Fragen zu suchen, wie z.B.: Was bedeutet Policy in bestimmten Kontexten; welche Arbeit verrichtet sie und was sind ihre Auswirkungen; wie verhält sich eine Policy zu anderen Institutionen und Praktiken innerhalb einer bestimmten Gesellschaft; welche Bedingungen machen diese Policy möglich (ebd.: 92-93).

a) Diskussion

Policies im Bildungsbereich können als die Maßnahmen verstanden werden, die von Regierungen mit Bezug auf Bildungssysteme und -praktiken ergriffen werden. In diesem Kontext arbeiten öffentliche und private Institutionen und Akteur*innen mit staatlichen Organisationen zusammen, um Policies zu entwerfen und umzusetzen (Viennet & Pont 2017).  Diese Policies decken ein breites Spektrum von Themen ab, wie z.B. Lehrpläne, Qualität des Lernens, Gerechtigkeit, Evaluierungsmechanismen usw. Sie sind an alle beteiligten Akteur*innen gerichtet und von ihnen umgesetzt.
Die Bildungspolitik wird von politischen, wirtschaftlichen, ideologischen und kulturellen Kräften geprägt. Infolgedessen wird das Bildungssystem, wie Apple (2003) feststellte, zu einer "Arena", in der es zwischen denjenigen, die von diesen Policies profitieren, zu Konflikten über die Definitionshoheit kommt. Das Verstehen dieser Prozesse bildet die Grundlage für die Untersuchung der von Policy im Bildungsbereich und ein besseres Verständnis der Vorgänge in Schulen und anderen Bildungskontexten. 
Hamman & Rosen (2011) definieren Policy im Bildungsbereich als eine Form der soziokulturellen Praxis, die eine Reihe von Akteur*innen mit unterschiedlichem Grad an Autorität einschließt. Es gilt a) zu definieren, was in der Bildung problematisch ist, b) Interpretationen und Mittel zu gestalten, wie Probleme gelöst werden sollten, und c) zu entscheiden, auf welche Vision der zukünftigen Veränderungsbemühungen sie ausgerichtet sein sollten.
Diese Konzeption von Bildungspolitik lenkt die Aufmerksamkeit auf die sozialen und kulturellen Prozesse der Interpretation, der Anfechtung, der Anpassung, des Kompromisses und manchmal des Widerstands. So gesehen passieren Umsetzungen von Maßnahmen und Strategien nicht geradlinig. Vielmehr existiert eine große Diversität und Vernetzung der an den Bildungsprozessen beteiligten Akteur*innen.
Ein anthropologischer Fokus auf die Umsetzung von Policy im Bildungsbereich beleuchtet den sozial konstruierten Charakter jeder der oben genannten Dimensionen von Policy (Problemdefinition, Strategien der Problemlösung und die dahinterliegende moralische Grundhaltung). In dieser Perspektive gilt, dass nicht nur politische Lösungen, sondern auch die angeblichen "Probleme", an die sich die Policy richtet, das Produkt sozialer und kultureller Prozesse sind (ebd.: 466).

b) Praktisches Beispiel

Lundin & Torpsten (2018) untersuchen die Beziehung zwischen der schwedischen staatlichen Policy gegen diskriminierendes Verhalten und der Art und Weise, wie Schulen in ihren Gleichstellungsplänen dokumentieren, wie sie Straftaten und Belästigungen verhindern. Nach dem so genannten Bildungsgesetz müssen alle Schulen in Schweden eine gezielte Arbeit zum Schutz der Rechte und Möglichkeiten ihrer Schüler*innen leisten. Alle Maßnahmen, die Schulen einführen, müssen in schulischen Policy-Dokumenten, den so genannten Gleichstellungsplänen, beschrieben werden. Die Schulen müssen sich damit befassen, wie sie gegen demütigende Handlungen in sieben Bereichen vorgehen: Geschlecht, Transgender-Identität oder Ausdruck, Herkunft, Religion oder andere Weltanschauung, Behinderung, sexuelle Orientierung und Alter.
Die Studie untersucht die Dokumente von Schulen in zwei Gemeinden im Süden, zwei in der Mitte und zwei im Norden des Landes. Die Stichprobe umfasst städtische Schulen, mittelgroße kommunale Schulen und Schulen auf dem Land sowie 110 Gleichstellungspläne. Ziel ist es, die in den Schuldokumenten zum Ausdruck gebrachten Weltanschauungen in Bezug auf die zugrundeliegenden Diskurse zu verstehen. Jeder ausgewählte Text wird von Schulpersonal formuliert. In einigen Schulen basiert die Analyse auf einem Fragebogen, der den Schüler*innen oder/und Eltern ausgehändigt wird. Zu den Forschungsfragen der Studie gehören unter anderem die wahrgenommenen Ursachen von Diskriminierung innerhalb der Schulen, die Lösungen, die sich in den Gleichstellungsplänen abzeichnen, und die Identitätskonstruktionen, die dadurch ablaufen.
Die Autor*innen bestimmen in dem von ihnen untersuchten Material drei Diskurse: den "perfekten" schulischen Diskurs, den "designierten" Diskurs und den pädagogischen Diskurs. Diese Diskurse unterscheiden sich darin, wie sie sich auf Diskriminierung in den verschiedenen Möglichkeiten beziehen. Nach dem gesammelten empirischen Material gibt es keine Probleme im perfekten schulischen Diskurs. Jeder fühlt sich sicher, und es besteht keine Notwendigkeit für Lösungen. Die einzige Identität ist hier die "perfekte" Schüler*in. Im "designierten" Diskurs verursachen Schüler*in, die sich nicht an die Vorgaben halten, Probleme, und die Lösung besteht darin, sie zu erziehen. In diesem Diskurs gibt es zwei Identitäten - nicht-funktionierende und den funktionierenden Schüler*innen. Im pädagogischen Diskurs wird die Perspektive breiter gefasst. Hier sind es Probleme die vorherrschenden Normen und der Gesellschaft, die zu Ungleichheiten im Klassenzimmer führen.
Die drei Diskurse bilden die Grundlage für unterschiedliche Auffassungen des Schulkontextes und der Policies, die als geeignet angesehen werden, um Lösungen gegen Diskrimierung zu liefern. Die perfekte Schule mit ihrer Verleugnung von Problemen zeichnet sich so aus, dass Lösungen für ein nicht existierendes Problem nicht erforderlich sind. Der designierte Diskurs weist auf problematische Schüler*innen als Ursache für wiederkehrende Probleme hin. In den Gleichstellungsplänen, die den designierten Diskurs verwenden, gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Schulen Schüler*innen als unterdrückt betrachten würden. Vielmehr sind es die unwissenden Schüler*innen, die aufgeklärt werden müssen. Der dritte Diskurs, der pädagogische Diskurs, impliziert die Infragestellung von Normen und die Verfolgung eines kritischen Ansatzes zur Veränderung diskriminierender Muster.

Weiterdenken:

  • Wie werden staatliche Policies in der Schule umgesetzt?
  • Wie wirken sich Policies im Bildungsbereich und ihre Umsetzung auf Schüler*innen und Lehrer*innen aus?
  • Was ist der Handlungsspielraum von Lehrer*innen und Schulen bezüglich staatlicher Policy?

Stichwörter / Querverweise

Macht, Doing School, Reflexivität, Ideologie

Quellen

Apple, M. (2003). The State and the Politics of Knowledge, London: Routledge.

Castagno, A. E., & McCarty, T. L. (2017). The anthropology of education policy: Ethnographic inquiries into policy as sociocultural process. London: Taylor and Francis.

Hamann, Ed., T. & Rosen, L. (2011) What Makes the Anthropology of Educational Policy Implementation “Anthropological”?. In Levinson, Br. A. U. & Pollock, M. (Eds) A Companion to the Anthropology of Education. Chichester: Wiley-Blackwell. (461–477).

Lundin, M. & Torpsten, A. Chr. (2018). The “flawless” school and the problematic actors:
Research on policy documents to counteract discrimination and degrading treatment in schools in Sweden. European Journal of Education, 53. (574–585).

Shore, Chr. (2012) Anthropology and Public Policy. In Fardon R., (et al.) (Eds) The Sage Handbook of Social Anthropology, Los Angeles: Sage. (89-104).

Shore, Ch, & Wright, S. (1997). Anthropology of public policy: Critical perspectives on governance and power. London: Routledge.

Viennet R., & Pont B. (2017). Education Policy Implementation: A Literature Review and Proposed Framework, OECD Education Working Paper, 162. (1-62).

Wedel, J. (et al.) (2005). Toward an Anthropology of Public Policy. In The Use and Usefulness of the Social Sciences: Achievement, disappointments, and promise, Annals of the American Academy of Political and Social Science, 600(1). (30–51).

Wright, S. (2006). Anthropology of Policy. Anthropology News. (22)

Autor*innen

Ioannis Manos, Georgia Sarikoudi (Griechenland)

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