Sich persönlich und beruflich in der Geschichte verorten zu können, um sich über die Kräfte, die die eigene Existenz bestimmen, klar zu werden, ist das Kennzeichen von Lehrer*innen, welche sich den Reflexionsprozess zunutze machten und damit beginnen können, auf die Welt in einer Weise zu wirken, die darauf abzielt, sie zu verändern. (Smyth 1989:15)
Warum diesen Text lesen…
Reflexivität ist eine zentrale Säule ihrer Verantwortlichkeit und Professionalität als Lehrer*in. Dieser Kerngedanke wird im Verlauf des folgenden Textes wissenschaftlich eingebettet und aus bildungsanthropologischer Sicht beleuchtet. So soll der Text dazu anregen, Reflexivität als produktiven und unverzichtbaren Teil ihrer persönlichen und fachlichen Qualitäten zu sehen.
Denn das Arbeitsumfeld von Lehrer*innen ist so dynamisch wie in kaum einem anderen Beruf – Sie begleiten diverseste Gruppen von Lernenden dabei, sich zu entwickeln und als Individuen zu wachsen. Dies findet zwar sowohl auf intellektueller Ebene – fachdidaktisch – statt, jedoch noch weitaus mehr durch zwischenmenschlichen Umgang und Austausch. Es existiert keine „reine“ Wissensvermittlung, vielmehr ist diese konstant eingebettet in soziale Interaktion – Wissensvermittlung ist immer personenabhängig. Schon aus unseren eigenen Biographien wird dies ersichtlich, wenn wir daran denken, wie viel Einfluss bestimmte Lehrer*innenfiguren auf unsere persönliche Entwicklung hatten. Jeder/m Leser*in kommen Erinnerungen in den Sinn, sowohl positive wie negative: der einen hat die Deutschlehrerin in der 9ten Klasse damals das Tor zur Schönheit von Sprache geöffnet, ein anderer wird niemals wieder einen Ballsport ausüben, da ihn sein Sportlehrer in der Mittelstufe unfair behandelt und benotet hat. Zwischenmenschliche Interaktion macht uns zu dem was wir sind, gleichwohl prägen uns Konflikte nachhaltig. Sozialwissenschaftlich gesehen sind zwischenmenschliche Konflikte in sozialer Interaktion jedoch nicht nur „rein privater“ Natur, sondern deuten auch immer auf größere gesellschaftliche Probleme hin. Damit sind auch Konflikte im Schulkontext nie von gesamtgesellschaftlichen Problemen zu trennen. Oft manifestieren sich diese in Mikro-Situationen, werden jedoch häufig von den Beteiligten nicht erkannt und bleiben so unsichtbar. In diesem Sinne lädt der folgende Beitrag sie dazu ein, ihre eigene Lehrpraxis neu zu sehen und zu hinterfragen. Reflexivität ist hierbei die zentrale Fähigkeit, sich selbst in den Blick rücken zu können und eigene Anteile an Dynamiken und ggf. Konflikten wahrnehmen zu können. Letztlich ist diese Fähigkeit ein zentraler Teil der Verantwortung des Lehrer*innenberufs, Lehrprozesse inklusiv zu gestalten und sich selbst als lebenslang Lernende*r zu begreifen.
Geschichte
In einem bildungsanthropologischem Zugang zu Reflexivität im Klassenzimmer haben insbesondere zwei Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20ten Jahrhunderts einen großen Einfluss gehabt. Diese werden im Folgenden kurz skizziert und sind hilfreich, um die Wichtigkeit der heutigen Diskussion nachzuvollziehen.
Auf der einen Seite haben aufkommende Diskussionen in den Sozialwissenschaften der 1970er und 1980er die Relevanz von Reflexivität wie noch nie zuvor betont und neu definiert. Dies hat die Sozialwissenschaften nachhaltig geprägt und führte dazu, dass seitdem Reflexivität eine zentrale Säule in den Qualitäts- und Ethikstandards von Forschung darstellt. Bis dahin wurde Wissenschaft als „objektiv“ begriffen, sprich durch Forschung ließen sich allgemein gültige und wertneutrale Aussagen über Gesellschaft und Menschen treffen. In diesem Zugang bedeutete Reflexivität lediglich folgendes: Überlegungen um sicherzustellen, dass wissenschaftliche Standards wie Wiederholbarkeit, Nachprüfbarkeit und Falsi- bzw. Verifizierung erfüllt sind. Anders formuliert waren Bedingungen erstrebenswert, wie sie idealerweise im Labor vorzufinden sind – jeder Einfluss kann reguliert, jeder Faktor einkalkuliert werden. Im Lauf der Zeit wurden jedoch kritische Stimmen laut. Diese thematisierten den Fakt, dass sozialwissenschaftliche Forschung in diesem Punkt ihren eigenen Standards nicht gerecht wurde, da sie eines komplett vernachlässigte: die Rolle des/*/r Forschenden selbst.
Dies ist von zentraler Bedeutung, da die eigenen Vorstellungen, Perspektiven und Vorannahmen einen ungemein großen Einfluss auf die Forschung selbst haben. Was ich in den Blick nehme, wie ich Dinge betrachte und welchen Aspekten ich weniger Aufmerksamkeit schenke hängt stark von dem ab, was ich als spezifische Person mit meinen spezifischen biographischen Erfahrungen mitbringe. Einer der größten Kritikpunkte in der Debatte war, dass sozialwissenschaftliche Zugänge dies nicht anerkennen und Gesellschaft mit einem „Blick aus dem Nirgendwo“ (Haraway 1988) betrachteten, sprich die spezifische Position, von der betrachtet und analysiert wird, völlig außer Acht gelassen wird. An einem fiktiven Beispiel veranschaulicht heißt das folgendes: Ein Forscher aus der deutschen Oberschicht würde in einem Vorort von Kapstadt komplett andere Forschungsergebnisse generieren als eine lokal verwurzelte Forscherin. Meine eigenen Erfahrungen, basierend auf meinem spezifischen biographischen Hintergrund, hat ungemein großen Einfluss auf meine Wahrnehmung, mein Wertesystem und meinen Blick in die Welt.
Dies ist prinzipiell nicht per se schlecht oder gut, aber es wirft wichtige Fragen auf: Welche Rolle spielt mein spezifischer Erfahrungshintergrund im Feld? Welche Differenzen in Lebenserfahrung gibt es zu den Beforschten? Inwieweit ist meine Wahrnehmung geprägt von meinen Vorannahmen? Diese Debatten führten dazu, dass Reflexivität in zeitgemäßen Zugängen folgendes umfasst: sich seiner Position bewusst zu sein und die Folgen von dieser Position verantwortungsvoll zu reflektieren.
Auf der anderen Seite hat die Bildungsanthropologie quasi seit ihren Anfängen in den 1950ern aufgezeigt, dass eine ähnliche Problematik im Schulkontext vorliegt. Hier waren die bildungsanthropologischen Studien des Ehepaares Spindler in den USA wegweisend: so zeigte George Spindler 1951 in seiner Studie einer Klasse auf, inwieweit sich die Selbstwahrnehmung des Lehrers Roger Harker (Pseudonym) nicht mit der Realität deckte. Roger Harker war der Überzeugung, alle Schüler*innen gleich zu behandeln. Jedoch konnte von Spindler beobachtet werden, dass sich die Qualität und Quantität des Umgangs mit Schüler*innen im Klassenzimmer massiv unterschied - die Schüler*innen, die seinem Erfahrungshintergrund am ähnlichsten (weiß, Mittelschicht, ..) waren, wurden mit viel Aufmerksamkeit bedacht, wohingegen Schüler*innen außerhalb dieser Kategorien mit wenig. Dies umfasste auch informelle Interaktion wie Witze und Gespräche außerhalb des Unterrichts. Weiterhin wirkte sich das auch auf die Erwartungshaltung gegenüber den Schüler*innen aus, so wurde die Gruppe außerhalb seiner Kategorien weniger gefordert und letztlich gefördert. Lediglich die betroffenen Schüler*innen artikulierten Kritik an der Situation, während vom Lehrer hin zum Direktor niemand diese Probleme wahrnahm. Zentral hierbei ist der Fokus auf Roger Harker als Mit-Verursacher von Konflikten im Klassenzimmer. Hier wird die Lehrkraft zurück ins Bild gerückt, wohingegen die Lehrkraft selbst die Konflikte ebenfalls mit dem oben beschriebenen „Blick aus dem Nirgendwo“ betrachten würde - das eigene Handeln und die eigene Person würden ungesehen bleiben und als Grund für Konflikte die anderen Beteiligten genannt werden.
Dieses Phänomen wurde in über 60 Jahren bildungsanthropologischer Forschung immer wieder in verschiedensten Kontexten beobachtet. Die Kernthematik lautet hier, dass solche Konflikte zwischen Lehrer*in und Lehrende*m sind nie nur „rein privater“ Natur sind. Vielmehr beeinflussen die Erfahrungen, die wir in unseren jeweiligen Zugehörigkeiten wie kultureller Hintergrund, Geschlecht oder auch Schicht machen, unsere Interaktionen. Problematisch ist jedoch, wenn nur dem Gegenüber ein „Anders-sein“ bzw. ein Inkompatibel-sein attestiert wird, ohne unsere Eigenheiten zu reflektieren. Und hier spielt Reflexivität eine zentrale Rolle.
a) Diskussion
Jedoch bleibt ein Grundproblem, welches schon mit dem Versuch beginnt, über Reflexivität zu schreiben: Reflektieren ist kein simples Zurücktreten und rationales Analysieren von klaren Situationen. Vielmehr ist die erlebte Realität das Gegenteil – chaotisch, emotional aufgeladen und bevölkert von komplexen Menschen. In diesem Sinne gibt es weder eine einfache Anleitung zum Reflektieren, noch die Möglichkeit Reflexivität im Alltag zu messen. Vielmehr spielt die eigene Intuition die wohl größte Rolle, im Schulunterricht wie anderswo. Dennoch erfordert der Lehrer*innenberuf eine Sensibilität, eine konstante Auseinandersetzung mit der eigenen Person, oder wie es die Pädagogin Jean Rudduck in Bezug auf Lehrer*innen ausdrückte: „die eigene Praxis nicht zu hinterfragen ist unverantwortlich; Unterrichten als ein Experiment zu sehen und seine eigene Performance zu evaluieren ist eine verantwortungsvolle professionelle Handlung“ (in Smyth 1989:16).
b) Praktisches Beispiel
In diesem Sinne kann per se ein praktisches Beispiel keine Bedienungsanleitung zur Reflexivität darstellen, sondern muss Raum für den jeweiligen Kontext und die jeweilige Persönlichkeit lassen. Ein solches Konzept bietet der renommierte Erziehungswissenschaftler J. Smyth an, dieses ist ein mittlerweile klassisches Beispiel für praxisorientierte systematische Reflektion und besteht aus vier Schritten:
Beschreiben: Der Grundgedanke hierbei lautet, dass jede Form von Reflexivität praxisbezogen sein muss – so schlägt er vor, in einem ersten Schritt erlebte Situationen, Events und Tage in detaillierten Beschreibungen zu verschriftlichen. Dies muss keineswegs in akademischer Sprache geschehen, ganz im Gegenteil ist es wichtig, die einem selbst geläufigen Worte und Begriffe zu benutzen. Solche personalisierten Geschichten sind die grundlegende Basis um dann den zweiten Schritt folgen zu lassen.
Informieren: In diesem wird versucht, die sich wiederholenden Themen und pädagogischen Prinzipien abzuleiten, welche in den beschriebenen Ereignissen intuitiv angewendet wurden. Möglicherweise in der Form von „Es schaut so als ob..“-Sätzen lassen sich unbewusst gewählte Methoden und Strategien sichtbar machen und letztlich die eigene implizite Theorie artikulieren. In den Worten Smyth´s ist das Ziel, dass Lehrer*innen versuchen „ihre Lehrpraxis nicht mehr mystifizieren und [..] sich eine Lage bringen, in welcher sie durch die Diskussion mit anderen anfangen können zu sehen, welche Einflüsse sie die Dinge tun lassen die sie tun, und wie sie sich über reines Intellektualisieren hinaus hin zu dem Ergreifen von konkreten Handlungen entwickeln können” (in Smyth 1989:14).
Konfrontieren: Dieser Schritt greift den Grundgedanken auf, dass das eigene Denken und Handeln – hier verstanden als die Lehrpraxis – keine individuelle Wahl ist, sondern beeinflusst durch tiefgreifende kulturelle Werte und Normen. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich die eigenen Wertesysteme und Sichtweisen gebildet haben, schlägt Smyth vor, dass sich Lehrer*innen mit ihren eigenen Biographien auseinandersetzen. Dies kann zu einem Bewusstsein für die spezifischen Erfahrungen schaffen. Leitfragen hierzu finden sich am Ende diese Textes.
Rekonstruieren: Der letzte Schritt besteht in der praxisorientierten Realisierung der bisherigen Erkenntnisse. Essentiell ist hierbei der Gedanke dass „die Menschen, die den Unterricht durchführen, sollten die selben Menschen sein, die darüber reflektieren“ (in Smyth 1989:15) und andersherum. So lassen sich nach einem Bewusstwerden der eigenen Praxis und der eigenen Person Entscheidungen treffen: Will ich Dinge anders machen? Bleibe ich bei diesem oder jenem Handlungsmuster? Beides ist möglich, Kern ist jedoch dass man ich nun der Dimensionen und Auswirkungen des eigenen Handelns bewusst ist.
Weiter denken
(Smyth 1989:15f)
Stichwörter / Querverweise
Doing School, Intersektionalität, Reziprozität, Multikulturalismus
Quellen
Haraway, D. (1988). Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. Feminist Studies 14 (3). (575-599).
Smyth, J. (1989). "Developing and Sustaining Critical Reflection in Teacher Education". Education and Culture 9 (3). (7-19).
Spindler, G., Spindler, L. (2000). Fifty Years of Anthropology and Education 1950-2000. Mahwah, NY: Lawrence Erlbaum Associates, Publishers.
Autor*innen: Paul Sperneac-Wolfer (Österreich)The European Commission support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflects the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use, which may be made of the information contained therein.