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Reziprozität

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Im weitesten Sinne bezieht sich der Begriff Reziprozität auf Gegenseitigkeit - es handelt sich um eine grundlegende menschliche Dynamik des gegenseitigen Austauschs. Wie Sie vielleicht wissen, geht es bei Gegenseitigkeit jedoch nicht nur um den Austausch von Gütern, Geschenken und Wissen, sondern es kann sich auch auf Dienstleistungen oder Handlungen beziehen. Solche Formen von Austausch werden gemeinhin oft als "freiwillig" betitelt, aber wenn man sich näher damit befasst, kann man erkennen, dass das Schenken auch oft sozio-moralischen Druck beinhaltet. Unter anderem dadurch, dass man mit sozialen Sanktionen rechnen kann, wenn man ein Geschenk nicht erwidert, kann dies (im schlimmsten Fall) zum Ende einer sozialen Beziehung führen. Gegenseitigkeit ist also dadurch gekennzeichnet, dass sie gleichzeitig frei als auch verpflichtend ist. Die Gegenleistung muss nicht unmittelbar nach der ersten Gabe erfolgen. Die Rückgabe eines Geschenks kann einige Zeit in Anspruch nehmen (Mauss 1997). Anhand eines simplen Beispiels aus dem Bildungsbereich könnte eine Gegenseitigkeitshandlung folgendermaßen beschrieben werden: Eine Schülerin hilft einem anderen Schüler bei den Mathematik-Hausaufgaben. Sie gibt ihr Wissen weiter. Sie erwartet, dass er sie dann unterstützt, wenn sie Hilfe beim Lernen braucht. Wenn er sich weigert, führt dies zu einer schlechten Stimmung zwischen den beiden oder eventuell zum Ende einer Freundschaft.

Geschichte
Einer der ersten Wissenschaftler, der das Prinzip der Reziprozität erforschte, war Bronislaw Malinowski Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Trobriand-Inseln in Papa-Neuguinea. Dort entdeckte er ein Tauschhandelssystem, das von den Einwohnern als "Kula" bezeichnet wurde. Im Kula-Ring (einem Ring von Inseln) zirkulieren Halsketten in der einen Richtung und Armbänder in der anderen Richtung. Wurde eine Halskette geschenkt, muss diese mit einem Armband zurückgezahlt worden sein. Es ist wichtig, dass diese Schmuckstücke nicht aufbewahrt, sondern immer weitergegeben werden dürfen. Die Ehre und das Prestige werden umso größer, je mehr man verschenkt. Die Zeit zwischen dem Verschenken und dem Zurückgeben kann Minuten oder Jahre betragen. Es ist jedoch verboten, etwas sofort zurückzugeben, da dies einer Handelsbeziehung gleichkäme, was hier nicht der Fall ist. Es handelt sich um eine Gabe, die “total” (Mauss 1997) ist, da sie nicht nur ökonomische, sondern politische, soziale sowie religiös-symbolische Dimensionen umfasst und die intakten Beziehungen der Beteiligten gewährleistet.

Max Weber beschäftigte sich auch mit dem Konzept der Reziprozität - allerdings eher indirekt bei der Entwicklung des Konzepts der "sozialen Aktion". Sein Fokus lag nicht auf dem gegenseitigen Handeln, sondern auf den gegenseitigen Erwartungen. Mit einer ähnlichen Perspektive verfasste Georg Simmel die ersten Werke über Schenkung und Gegenleistung. Er stellte fest, dass jede Interaktion zwischen Menschen von einer Balance zwischen Geben und Nehmen geprägt ist. Auch Marcel Mauss schrieb 1925 über ein Phänomen, das er "die Gabe" nannte. Er verwendet das Kula-System von den Trobriand-Inseln als Modell, um seine Theorie des Geschenkaustauschs zu entwickeln. Mauss untersuchte auch ein nordamerikanisches System, den „Potlatch“. Der Kern dieses Tauschsystems besteht darin, dass jeder so viel wie möglich verschenkt. Je mehr man gibt, desto höher ist sein Ansehen. Wenn man einem Menschen etwas gibt, ist es genauso notwendig, etwas zurückzugeben. Es geht nicht um das Geschenk selbst, sondern um den Prozess des Gebens und im Falle des Potlatches sogar des gegenseitigen Übertreffens (Mauss 1997).

a) Diskussion
Reziprozität bezieht sich auf den gegenseitigen Ausgleich der "Verpflichtung". Es geht nicht oberflächlich um den Austausch von Geschenken oder materiellen Gütern. Nicht das Geschenk selbst steht im Vordergrund, sondern die Beziehungen, die im Prozess der Gegenseitigkeit entstehen. Das System der Reziprozität wird seit langem als Teil des menschlichen Verhaltens betrachtet. Wie oben erwähnt, geht Georg Simmel davon aus, dass jede Interaktion zwischen Menschen ein System des Gebens und Nehmens beinhaltet. Die Beziehungen, die dabei entstehen, sind oft von längerer Dauer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zwischen dem Geben und dem Zurückgeben eines Geschenks eine gewisse Zeit vergehen kann.  Oft ist es sogar in den Normen einer Gesellschaft verankert, dass ein Geschenk nicht sofort zurückgegeben werden darf, weil es sonst eine einmalige Handelsbeziehung wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Austauschbeziehung, die über einen längeren Zeitraum besteht. Eine hilfreiche Unterscheidung entwickelte der deutsche Soziologie Stegbauer und identifizierte 4 Hauptformen von Reziprozität: die direkte Reziprozität, die verallgemeinerte Reziprozität, die Reziprozität von Positionen und die Reziprozität von Perspektiven (2011).

Bei der direkten Reziprozität geht es um einen direkten Austausch zwischen zwei oder mehr Personen. Die ausgetauschten Geschenke müssen gleichwertig sein, um die jeweilige Schuld mit der anderen Person zu begleichen. Passend dazu benannte Mauss folgende grundlegende Dynamik in Austauschprozessen: Zunächst spendet eine Person ein Eröffnungsgeschenk. Danach wird dieses Geschenk angenommen. Dies ist obligatorisch, und es gelten oft Normen und Regeln. Am Ende muss ein Gegengeschenk gemacht werden (Mauss 1997). Insbesondere im Bereich der Bildung und damit des Wissensaustauschs könnte die Reziprozität im Klassenzimmer angewandt werden, um alle Beteiligten in die pädagogisch-schulische Beziehung einzubeziehen. Laut dem Bildungsanthropologen Wolcott wird Reziprozität in Bildungskontext jedoch oft als etwas Negatives ("negative Reziprozität") angesehen, da sich nur wenige Lehrer*innen vorstellen können, was Schüler*innen ihnen beibringen können und dies so als eine einseitige Verbindung wahrgenommen wird (Wolcott 1977).

Verallgemeinerte Reziprozität bedeutet einerseits eine Verallgemeinerung über eine Zeitspanne und andererseits eine Verallgemeinerung über eine Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. Mit einer Verallgemeinerung über eine Zeitspanne hinweg meint man vollendete Leistungen, die man nicht mehr ohne weiteres einer früheren Leistung zuordnen kann. Ein Beispiel wäre die intergenerationelle Reziprozität hinsichtlich der Eltern-Kind-Beziehung. Kinder brauchen in ihren frühen Jahren viel Hilfe von ihren Eltern, jedoch können sie zu diesem Zeitpunkt nichts zurückgeben. Dies wird als Aufschub der Rückgabe bezeichnet, die abhängig von den Beteiligten und der Familiendynamik zeitlich versetzt wieder relevant werden könnte.

Die Reziprozität der Rollen bezieht sich auf die Beziehung zwischen zwei Personen. Die Rollen, die diese beiden Personen einnehmen, werden ihnen einerseits von ihrer Umgebung zugeschrieben, aber sie handeln auch unabhängig voneinander. Die Reziprozität ergibt sich aus der Tatsache, dass die eine Rolle die andere produziert. Die Erwartung der einen Person erzeugt eine gegenseitige Erwartung in der anderen Person. Ein Beispiel dafür wäre die klassische Lehrer*in-Schüler*in-Beziehung. Die Student*innen erwarten von Lehrer*innen, dass er/sie ihnen etwas beibringt, während aus Lehrer*innenperspektive erwartet wird, dass sie aufmerksam und konzentriert sind.

Schlussendlich ist die Reziprozität der Perspektiven mit der Gegenseitigkeit der Rollen verbunden. Sie bedeutet die Fähigkeit einer Person, sich in eine andere Person einzufühlen. Entsprechend der Gegenseitigkeit der Rollen haben die Schüler*innen Erwartungen an ihre Lehrer*innen, wären aber in der Lage, sich in die Perspektive hineinzuversetzen und zu versuchen, ihre Ansichten zu verstehen.

b) Praktisches Beispiel
Ruth Paradise und Mariette De Haan haben ihre Forschungen mit Kindern und Jugendlichen bei den Mazahua, einer indigenen Gruppe in Zentralmexiko, durchgeführt. Viele von ihnen sprechen Spanisch, da ihre Eltern sie an öffentliche Schulen schicken, wo nur Spanisch unterrichtet wird und wo es oft an Interesse an zweisprachiger oder interkultureller Erziehung mangelt. Die Kinder lernen jedoch von ihren Eltern, zwischen zwei Rollen zu wechseln. Einmal sind sie "Wissensvermittler" und dann wieder "beobachtende Helfer". Das System, das dahintersteht, ist, dass jeder in einer Gemeinschaft hilfreich sein kann und dafür sorgt, dass er in bestimmten Situationen, in anderen Momenten zuschauen und von anderen Menschen lernen muss. Dieser gegenseitige Wissensaustausch beginnt bereits in der Kindheit und wird später in den Schulen fortgesetzt. In einer Untersuchung an einer Schule der Mazahua wurde dieses System des gegenseitigen Wissensaustauschs sowohl unter den Schüler*innen als auch zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen beobachtet. Die Schüler*innen saßen in Gruppen von zwei bis sechs Personen in Klassenräumen zusammen. Sie erledigten ihre eigenen Aufgaben, schauten aber immer wieder darauf, was die anderen taten, korrigierten automatisch die Fehler und halfen sich gegenseitig. Gleichzeitig bat keiner von ihnen aktiv um Hilfe - bot sie aber an. Wenn ein Lehrer etwas erklärte, wurde er manchmal von Schüler*innen unterbrochen, die etwas mehr wissen wollten oder das Gesagte in Frage stellten. Die Schüler*innen brachten ihr Wissen ein und beteiligten sich aktiv am Unterricht. Dieses System wird teilweise auch von Schüler*innen in öffentlichen Schulen genutzt. Nach dem Unterricht werden Gruppen gebildet, die gemeinsam lernen und sich gegenseitig helfen. Während des Unterrichts haben die Lehrer*innen jedoch die Kontrolle. Bei dem Versuch, das Mazahua-System an einer öffentlichen Schule einzuführen, spürten die Lehrer*innen einen Verlust der Kontrolle über den Unterricht sowie einen Verlust von Hierarchie und Autorität. "Es wäre peinlich und unangenehm gewesen", erklärte einer der teilnehmenden Lehrer. Um dieses System auch in öffentlichen Schulen anwenden zu können, müsste das klassische "Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnis" geändert werden. Nicht nur Lehrer*innen können Wissen weitergeben, auch Schüler*innen haben bereits ihr eigenes spezifisches Wissen und nicht nur Schüler*innen, sondern auch Lehrer*innen können lernen (Paradise & De Haan 2009).

Erst so können sich reziproke Beziehungen entwickeln, in denen sich alle Beteiligten gesehen und inkludiert fühlen. Beispiele für solche Gestaltungsmaßnahmen gibt es rund um den Globus zuhauf: als Abschluss sei hier auf den neuseeländischen Fall verwiesen, in welchem das aktuelle nationale Curriculum unter Einbeziehung von über 15000 Menschen – unter anderem Schüler*innen, Lehrer*innen und Maori-Vertreter*innen in den 2000er Jahren national erarbeitet wurde, und generell auf der Grundidee des „ako“ beruht, eines Maori-Wortes, das eine reziprokes Lernbeziehung beschreibt, in welcher alle Beteiligten voneinander lernen (vgl. Eley & Berryman 2019).

Weiter denken

  • Welche Praktiken und/oder Systeme der Reziprozität kann ich in meinem Arbeitsbereich identifizieren? Sind diese freiwillig und wer sind ihre wichtigsten Initiatoren und Akteure?
  • Welche Möglichkeiten des gegenseitigen Austauschs könnte es zwischen mir und den Lernenden geben?
  • Was kann ich tun, um die Reziprozität zwischen meinen Studierenden zu fördern?
  • Welche Erwartungen habe ich an die Reziprozität zwischen mir und den Lernenden? Sind sie immer gerechtfertigt?
  • Wie gehe ich mit der Frustration um, nicht den Grad an Mitarbeit zu erhalten, den ich erwarte, und wie beeinflusst dies meinen Unterricht und den Umgang mit den Lernenden?

Stichwörter / Querverweise

Reflexivität, Doing School,

Quellen

Eley, E., Berryman, M. (2019). Leading Transformative Education Reform in New Zealand Schools. New Zealand Journal of Educational Studies, 54. (121–137).

Mauss, M. (1997). Die Gabe. In Soziologie und Anthropologie, 2. (120-137). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Paradise, R., De Haan, M. (2009). Responsibility and Reciprocity: Social Organization of Mazahua Learning Practices. Anthropology & Education Quarterly. (187-204).

Stegbauer, C. (2011). Reziprozität – Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit. Deutschland: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Wolcott, H. (1977). Teachers Versus Technocrats: An Educational Innovation in Anthropological Perspective. Oxford: Altamira Press.

Autor*innen: Magdalena Steger, Christa Markom, Jelena Tosic (Österreich)

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