Verwandtschaft bestimmt das Leben aller Menschen, unabhängig davon, wo sie leben. Als Teil dessen, was uns menschlich macht, verbinden diese familiären Netzwerke Menschen und gestalten Beziehungen in allen Gesellschaften. Somit stellt dieses Thema ein zentrales Interesse anthropologischer Forschung dar. So untersuchen Anthropolog*inne schon lange verschiedene Formen von Verwandtschaftsnetzwerken, um zu verstehen, wie Menschen Beziehungen in industriellen und nicht-industriellen Gesellschaften gestalten. Anthropologische Zugänge zu Verwandtschaft sind nützlich, um Beziehungsgeflechte zu verstehen, die in der Schule und in breiteren Bildungskontexten entstehen und geformt werden.
Louis Henry Morgan, ein amerikanischer Rechtsanwalt und Anthropologe, gehörte zu den ersten Wissenschaftler*innen, die sich mit Verwandtschaftsbeziehungen befassten. Sein Buch "The Ancient Society" (1877) legte den Grundstein für die vergleichende Untersuchung von Verwandtschaftssystemen auf der ganzen Welt. Die darauffolgenden Verwandtschaftsstudien (die sogannnten "kinship studies") haben sich mit den Symboliken und Systemen befasst, Verwandtschaftsbeziehungen ordnen. Das kann auf vielen Ebenen relevant sein: rechtlich, politisch oder auch emotional. Vorstellungen von Abstammung, Zugehörigkeit, Wechselseitigkeit und Verpflichtung zwischen den Generationen werden dabei in den Blick genommen. Als Grundlage jeder sozialen Organisation geht es bei Verwandtschaft darum, wie Menschen mit "den grundlegenden Tatsachen des Lebens umgehen: Fortpflanzung, Schwangerschaft, Elternschaft, Sozialisation, Geschwisterschaft und Tod" (Fox 1983, eigene Übersetzung). Anthropolog*innen erkannten schon früh, dass Menschen um den Globus Verwandtschaft anders verstehen und organisieren als im europäischen Raum üblich. Nicht unbedingt durch Biologie oder "Blutsverwandtschaften", sondern auch durch „erdachte“ Abstammungslinien, Fürsorgepraktiken oder durch gemeinsames Leben, Arbeiten und Essen. So hat sich die Untersuchung von Verwandtschaft vom Vergleich von "Systemen", die Gesellschaften strukturieren, zur Untersuchung breiterer Art und Weise entwickelt: wie Menschen Formen der Verwandtschaft praktizieren (Carsten 2000), die Gegenseitigkeit menschlicher Koexistenz verstehen (Sahlins 2013), und Verwandtschaft durch alltägliche und rituelle Prozesse immer wieder neu produzieren (Howell 2003).
In ihrem Bemühen zu verstehen, was Verwandtschaft im Kontext einer bestimmten Gesellschaft bedeutet, haben Anthropolog*innen eine Reihe verwandter Konzepte entwickelt, wie z.B.: Abstammung, Abstammungsgruppe, Abstammungslinie, Affinität, Blutsverwandtschaft und fiktive Verwandtschaft (engl. descent, descent group, lineage, affinity/affine, consanguinity/cognate & fictive kinship - die genaue Begriffswahl, sowohl im Englischen als auch im Deutschen, ist jedoch bis heute umstritten). Beeinflusst von verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen untersuchte eine Strömung in der Anthropologie in erster Linie die Sozialstruktur und die Rechte und Pflichten, die Verwandtschaftsnetzwerke schaffen und verstehen. Diese werden als Sozialanthropolog*innen verstanden. Kulturanthropolog*innen hingegen widmeten in ihrer Untersuchung der symbolischen Aspekte der Verwandtschaft der Bedeutung, der Praxis und dem Handeln mehr Aufmerksamkeit. Im Laufe der Jahre haben die Anthropolog*innen ihren Blickwinkel auf die Verwandtschaft verändert. Erst gingen sie von der Verwandtschaft als einer Angelegenheit von Fleisch und Blut (Malinowski 1930) aus, dann als Art und Weise, über Eigentums- und Klassenbeziehungen zu sprechen (Leach 1967), hin zu strategischen Entscheidungen und emotionalen Bindungen (Bourdieu 1977) oder auch von Verwandschaft Netzwerken politischer Macht (Kuper 2016). Die Perspektiven variieren wie angesprochen stark, je nach Hintergrund der Forscher*innen. Wenn wir eine Sekunde innehalten und darüber nachdenken, wie Verwandtschaft in das tägliche Leben und in die tägliche Realität der Menschen integriert ist, wie sie emotionale Unterstützung formt und erzeugt, Hilfe zwischen Haushaltsmitgliedern bildet, können wir jedenfalls bekräftigen, dass Verwandtschaft ein universelles, vitales Prinzip des sozialen Lebens ist. Mit anderen Worten: Verwandtschaft zählt.
In ihrer Arbeit über Beziehungskulturen (2000) führte Janet Carsten neue Konzepte in die Erforschung von Verwandtschaft, Geschlecht und Politik ein. Ohne die biologischen und psychologischen Aspekte der Verwandtschaft abzulehnen, konzentrieren sich neue Studien mehr auf die Sozialität der Verwandtschaft. Anthropolog*innen untersuchen nun neue Reproduktionstechnologien, gleichgeschlechtliche Ehen, Konzeptionen von Partnerschaft vs. Ehe, Wiederverheiratung, neue Formen der Elternschaft und wie Individuen und Staaten mit diesen neuen Formen der Verwandtschaft umgehen. Die ständige Herausforderung für Anthropolog*innen besteht darin, die Organisation von Verwandtschaftsnetzwerken und anderen Formen der Verwandtschaft in lokalen Kontexten zu verstehen. Das heißt unter anderem, nachvollziehen zu können, warum Menschen enorme Mengen an Zeit und Mühe, Energie und Geld investieren, um enge Beziehungen zu denjenigen zu pflegen, die sie als verwandt betrachten. In diesem gegenwärtigen Moment globaler Interdependenz, Mobilität und neuer Familienformen fragen sich Anthropolog*innen, wie Verwandtschaft und verwandtschaftliche Beziehungen im Leben von Individuen sich verändern und ggf. ihre Kontinuität behalten können. Für den pädagogischen Bereich ist von Interesse, wie wir anthropologische Ansätze zu Verwandtschaft und Verwandtschaft anwenden könnten, um unsere spezifischen Vorstellungen zu Erziehung, Kindheit und Erwachsenwerden zu hinterfragen. Interessant ist hierbei unter anderem, wie Schulen Formen von Peer-Beziehungen formen, die für Kinder von Bedeutung sind, sowie pädagogische Vorstellungen von sozialer Integration und Mobilität.
Familiengeschichten können im Unterricht eine wichtige Rolle spielen. Lehrer*innen treffen auf Schüler*innen, die Lebenskrisen erlebt haben, die durch interne Familientragödien oder externe Faktoren wie Kriege, Konflikte oder Naturkatastrophen verursacht wurden. Solche Erfahrungen tragen zur Bildung von Familiengeschichten bei, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Beispielsweise wäre im Geschichtsunterricht folgendes denkbar: um das Bewusstsein der Kinder zu schärfen und ihnen zu helfen, mit diesen Ereignissen umzugehen, und um eine Klassengemeinschaft aufzubauen, können Lehrer*innen Kinder ethnografische Forschungen über die Geschichte und Erzählungen ihrer Familie durchführen lassen.
Eine solche Forschung kann die Durchführung von Interviews mit Familienmitgliedern und die gemeinsame Erkundung von Familienerinnerungsstücken und Familienfotos beinhalten. Die Schüler*innen können einen Familienstammbaum erstellen, die Personen im Stammbaum mit Hilfe von Fotos und Nachnamen verbinden und die verschiedenen Rechte und Pflichten besprechen, die Beziehungen definieren. Die Erforschung von Familiennamen ermöglicht es den Schüler*innen, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Familiennamen aus Personennamen, Herkunftsorten, Familienbesitz oder Berufen abgeleitet werden. Die Diskussion von Familiennamen ermöglicht es den Schüler*innen, etwas über die Familienidentität im Hinblick auf eine soziale Gruppe oder Klasse zu erfahren. Die Schüler*innen können auch Karten zur Familien- und persönlichen Mobilität erstellen, aus denen hervorgeht, wohin und wann die Familie/der Einzelne umgezogen ist und sich niedergelassen und neu angesiedelt hat, und die Fragen aufwerfen, warum Familien umziehen oder migrieren.
Da die Schüler*innen viele verschiedene familiäre und persönliche Geschichten und Erfahrungen haben, sollte es ihnen möglich sein, Stammbäume zu erstellen, die auf emotionaler Nähe oder anderen Formen der Verwandtschaft basieren, die für das Kind von Bedeutung sind, z.B. Freunde, Haustiere, Au-pairs, Nachbarn und anderen engen Beziehungen. Dies stellt nur ein denkbares Beispiel da, wie sich eine Sensibilität gegenüber dem Thema Verwandtschaft pädagogisch umsetzen lässt.
Beziehungsgeflechte, Verwandtschaft, Migration, Mobilität, Reflexivität,
Carsten, J. (ed.) (2000). Cultures of Relatedness. New Approaches to the Study of Kinship. Cambridge: Cambridge University Press
Douglas, M. (1966/2002). Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo (Routledge Classics). Routledge.
Fox, R. (1983). Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective. Cambridge University Press.
Howell, S. (2003). Kinning: The Creation of Life Trajectories in Transnational Adoptive Families. The Journal of the Royal Anthropological Institute, 9(3), 465-484.
Johnson-Hanks, J. (2007). “Women on the market: Marriage, consumption, and the Internet in urban Cameron.“ American Ethnologist 34(4), 642-658.
Parkin, R. (2004). Kinship and Family: An Anthropological Reader 1st Edition. Wiley-Blackwell
Sahlins, M. (2013). What Kinship Is – And Is Not. Chicago: University Press.
Schneider, D. (1968). American Kinship. A Cultural Account. The University of Chichago Press.
Strathern, M. (1992). After nature: English kinship in the late twentieth century. Cambridge: University Press.
Scheper-Hughes, N. (2001). Kinship Negotiations: What’s Biology Not/Got to Do with It. In: Franklin, S., McKinnon, S. Relative Values: Reconfiguring Kinship. Duke University Press.
Strathern, M. (2005). Partial Connections. AltaMira Press.
Stone L., & King E. D. (2018). Kinship and Gender. An Introduction. Routledge.
Danijela Birt Katić, Jelena Kuspjak (Kroatien)
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