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Weltgestaltung

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Weltgestaltung ist ein wichtiges Konzept für Pädagog*innen. Es bezieht sich sowohl auf die winzigen Ergebnisse der alltäglichen sozialen Interaktion als auch auf umfassendere historische Prozesse des sozialen Wandels. Alle Pädagog*innen sind tief in die Weltgestaltung eingebunden, da sie eine bestimmte Auffassung der Welt haben und den neuen Generationen präsentieren. Die jeweilige Weltauffassung, wie sie präsentiert wird, wird oft als selbstverständlich, als "natürlich" und als "notwendig" angesehen. Dennoch sind Auffassungen immer umstritten, voller Wertekonflikte, divergierender Interessen, Machtkämpfe, interner Widersprüche und sozialer Ungerechtigkeiten.
Pädagogik ist eine Form der Weltgestaltung. So wie Lehrer*innen die Kinder anleiten, eine Welt, die sie nicht selbst erschaffen haben, zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden, erschaffen Lehrer*innen und Kinder die Welt unweigerlich neu. Es ist daher wichtig, zu erkennen und kritisch darüber nachzudenken, welche Welt(en) wir den Kindern präsentieren und welche Welt wir zusammen mit den Kindern durch Interaktion im Klassenzimmer und andere pädagogische Praktiken hervorbringen.

Historischer Kontext

Die Weltanschauung bezieht sich auf die Wahrnehmung einer geordneten Realität durch die Menschen, auf ihre Vorstellungen "wie die Dinge sind". Zu den grundlegenden Weltverständnissen gehören Vorstellungen von Natur, Selbst und Gesellschaft und wie diese geordnet sind. Als stillschweigendes Wissen über "die Art und Weise, wie die Dinge sind" dient eine Weltanschauung als Interpretationsrahmen für die Sinnhaftigkeit des Handelns von Menschen. Eine bestimmte Weltanschauung kann das Verhalten von Menschen beeinflussen, aber niemals determinieren (Rapport 2007:431).
Weltanschauungen sind insofern perspektivisch, als sie eine Sicht von einem Ort aus darstellen. Da sie konstanten Aushandlungen unterliegen, sind sie auch offen. Genauso wie es kein "absolutes und endgültiges Wissen" gibt, ist eine "völlig angemessene und umfassende Weltanschauung" nicht möglich (Geertz 2016: 635). Anthropolog*innen zeichnen Unterschiede zwischen Gruppen unter anderem danach, wie sich verschiedene Menschen sich die Welt vorstellen (Rapport 2007:431). Es gibt keine klaren Linien zwischen den Weltanschauungen, da keine Version der Realität vollständig und allumfassend ist. Ebenso wenig ist eine bestimmte Weltanschauung eine allgemein geteilte kognitive Vorlage, die alle Individuen verinnerlichen. Es handelt sich um ein theoretisches Gebilde, das von Anthropolog*innen aus den Mustern, nach denen sich Menschen in der Welt bewegen, konstruiert wurde. Somit ist auch Forschung von Weltgestaltung, und eine Momentaufnahme eines laufenden Prozesses (Pina Cabral 2017).
Weltgestaltung bezieht sich auf die laufende Formung der Welt durch soziale Interaktion. Sie bezeichnet die Art und Weise, wie Menschen unterschiedliche Realitäten und Praktiken schaffen, während sie sich mit herrschenden gesellschaftlichen Auffassungen auseinandersetzen (Rapport 2007: 427). Menschen überarbeiten kollektive Formen durch Prozesse des Zusammensetzens und Zerlegens, Gewichtens, Neuordnens, Löschens und Ergänzens mit neuen Variationen (Goodman 1978). Anthropolog*innen verstehen Weltgestaltung als Bricolage - als alltägliches Basteln an der Welt - d.h. das konstante Kreieren der Umwelt, welches weder Anfang noch Ende hat. Jede neue Realität nimmt Anleihen bei der vorherigen, passt sie an und bezieht sich auf sie, ohne jedoch vorhersehbar oder anderweitig vorherbestimmt zu sein. Aus dieser Perspektive ist die Ordnung, die wir erfahren, nicht "da draußen", die darauf wartet, entdeckt zu werden; sie wird durch bestimmte Machtverhältnisse und Wissens- und Wahrnehmungsweisen wie Wissenschaften und Alltagspraxis geformt (Pina-Cabral 2017, Rapport 2007: 429). Die menschliche Vorstellungskraft ist von zentraler Bedeutung für Prozesse der Weltgestaltung, da sie es uns ermöglicht, sowohl der vorhandenen Welt Realität zu geben als auch soziale Welten immer wieder neu zu erfinden, die Welt zu verändern, indem wir gegenwärtige Konventionen in Frage stellen und neue Horizonte ins Auge fassen.
Während uns das Konzept der Weltansschauung hilft, den perspektivischen Charakter von Realitäten zu erfassen, hilft uns das Konzept der Weltgestaltung, die Veränderbarkeit der Welt und die transformative Qualität der individuellen Vorstellungskraft zu erfassen (Vgl. Rizvi 2006).

a) Diskussion

Wir können die Weltgestaltung aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Religionen sind weltgestaltende Phänomene, da Menschen ihre Welt durch Überzeugungen, Symbole, Visionen, Riten und rituelle Praktiken real machen (Geertz 2016). Weltgestaltung ist auch immer Politikgestaltung. Politik ist niemals nur ein einschränkender Text; sie ist kreativ und schafft Räume, wenn verschiedene Gruppen und Einzelpersonen sich Politik für ihre eigenen Zwecke aneignen und anpassen (Shore et al. 2011; Levinson und Sutton 2001).
Berger und Luckmanns Begriff der "sozialen Konstruktion" (1966) geht von der Idee aus, dass Gruppen von Menschen die Welt auf eine Weise gestalten, die sehr reale Konsequenzen für die Individuen hat (vgl. Hacking 1999). Demzugrunde liegen historische Umstände, soziale Kräfte, Ideologien und menschliche Kreativität. Ruth Benedict (1935) bemerkte, dass bestimmte Formen der Lebensgestaltung praktische Probleme für diejenigen darstellen, die sie leben. Während sich die Idee der "sozialen Konstruktion" beispielsweise für Mütter und Väter befreiend anfühlen mag, die erkennen, dass Konstrukte "guter Eltern" nicht in Stein gemeißelt sind, fühlen sich andere vielleicht in Konstrukten wie "Kinder mit Lernbehinderungen" gefangen (McDermott 1993; Hacking 1999).
Die Weltgestaltung findet in der alltäglichen Interaktion statt, während die Menschen daran arbeiten, herauszufinden, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als nächstes zu tun ist. Varenne und Koyama (2011:51) zeigen, dass die Suche nach einer plausiblen nächsten Handlung neue Bedingungen hervorbringt. Diese beziehen sich auf frühere Handlungen, aber sind in ihrem Ausgang offen. Die Suche nach einer "nächsten" Handlung beinhaltet das Entdecken, Interpretieren, Erklären und Überzeugen anderer von einer Vorgehensweise in Bezug auf ein bestimmtes soziales Problem, z.B. wie man am besten in einem überfüllten Klassenzimmer unterrichtet. Wenn Menschen konstant handeln, transformieren, rekonstituieren und optimieren sie das, was vorher war, und "kultivieren" so die Welt durch ihre kontinuierliche Aktivität. Varenne und Koyama (2011:51-2) betrachten diese Kultivierung als zutiefst pädagogisch, als Lernen und Lehren im "voll progressiven Sinne eines fortlaufenden kollektiven Prozesses, der zeitlebens aktiviert wird, wenn man mit erneuter Unsicherheit konfrontiert ist" (eigene Übersetzung).

b) Ethnographisches Beipsiel

In dem Artikel mit dem Titel "Acquisition of a child by a learning disability" (1993) diskutiert Ray McDermott den neunjährigen amerikanischen Schuljungen Adam, der offiziell als lernbehindertes Kind (LD) bezeichnet wird. Ausgehend von einer 18-monatigen Feldforschung, in der er die Interaktion im Klassenzimmer visuell aufzeichnete und Adam in der Schule und darüber hinaus beobachtete, beginnt McDermott (1993:271) seinen Analyse von LD mit der Frage, wo eine "Lernbehinderung" zu finden ist. Wie ist LD? Ist es 1) ein Phänomen, das sich im Kopf des Adam abspielt, 2) eine rhetorische Kurzform, um über einige Kinder zu sprechen, oder 3) ein politisches Etikett und eine Quelle, um Schulkinder einzuteilen?
McDermott stellt gängige Herangehensweisen an das Lernversagen in Frage, die das individuelle Kind betrachten  und behaupten, dass Eigenschaften wie Aufmerksamkeitsdefizit und Probleme mit dem Wortzugang und der Phonetik "dem Kind zuzuschreiben sind und die Quelle sowohl des gestörten Verhaltens als auch des nachfolgenden Etiketts sind" (1993:272). Indem er das Schulumfeld in die Analyse miteinbezieht, argumentiert McDermott, dass ein diagnostisches Etikett wie LD als fest verankerte kulturelle Kategorie in Bildungsgesprächen jedem Kind vor seinem Eintritt in die Welt vorausgeht. Darüber hinaus meint LD einen bestimmten Anteil von Kindern in jeder neuen Generation genau deshalb, weil die Diagnose eine Funktion in dem Konzept von Schule hat - die Bewertung von Leistung, Kompetenzen und Fähigkeiten.
Bei der Beantwortung seiner Frage, wo eine Lernbehinderung genau zu finden ist, kommt McDermott (1993:273) zu dem Schluss, dass wir sagen könnten, dass es so etwas wie LD nicht gibt, sondern nur soziale Praktiken des "Zeigens, Bemerkens, Dokumentierens, Behebens und Erklärens" (eigene Übersetzung). Obwohl er anerkennt, dass einige Kinder langsamer oder auf andere Weise lernen als andere, vertritt er die Ansicht, dass diese Unterschiede in der Schule eine besondere Realität haben, weil Schulen so viele Gelegenheiten für ihre Demonstration bieten. In diesem Sinne ist die Welt kein neutrales Medium für das, was Kinder wie Adam nicht tun können; vielmehr sind die Behinderungen von Adam und anderen sichtbar, weil die Welt genau dafür organisiert ist, ihre Behinderungen sichtbar zu machen (1993: 273).

Weiterdenken:

  • Wie ist Ihre Welt geordnet und organisiert? Erklären Sie Ihre Version der "Welt" und tauschen Sie sich mit Kolleg*innen aus und diskutieren Sie mit ihnen.
  • Diskutieren Sie mit Kolleg*innen, ob und wie Sie das Lehren als weltgestaltend ansehen.
  • Welches Verständnis von "der Welt" vermitteln Sie den Schülern*innen und warum? Welche Kategorien verwenden Sie, um diese Welt für die Schüler*innen begreifbar zu machen?
  • Ruth Benedict (1935) bemerkte, dass bestimmte Arten, das Leben zu organisieren, praktische Probleme für diejenigen mit sich bringen, die damit leben. Welche "praktischen Probleme" könnte Ihre Version der Welt für alle/einige Kinder darstellen?

Stichwörter / Querverweise

Weltanschauung, Kultur, Reflexivität, Doing School, Privilegien, Vulnerable Gruppen,

Quellen:

Benedict, R (1932). ‘Configurations of Culture in North America’ American Anthropologist, New Series, 34(1): 1-27
Berger, P. L. and T. Luckmann (1966). The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City, NY: Anchor Books.
Geertz, C. (2016). ‘Ethos, Worldview and the Analysis of Sacred Symbols.’ The Antioch Review 74(3): 622-637.
Goodman, N. (1978). Ways of Worldmaking. Indianapolis, IN: Hackett Publishing Company. 
Hacking, I. (1999). ‘Why ask what? In The Social Construction of What, Cambridge, MA: Harvard University Press: 1-35.
Levinson, B. A.U. and M. Sutton (2001). ‘Introduction: Policy as/in Practice – A Sociocultural Approach to the Study of Educational Policy.’ In Policy as Practice: Towards a Comparative Sociocultural Analysis in Educational Policy Formation and Appropriation, edited by B.A.U. Levinson and M. Sutton, Westport: CT: Ablex: 1-22.
McDermott, R. (1993). The Acquisition of a Child by a Learning Disability. In Understanding Practice: Perspectives on Activity and Context, edited by S. Chaiklin & J. Lave, Cambridge: Cambridge University Press: 269-305.
PIna-Cabral, J. (2017). World. An Anthropological Examination, Chicago: Hau Books.
Rapport, N. (2007). ‘World-view’ and ‘Worldmaking.’ In Social and Cultural Anthropology. The Key Concepts, New York: Routledge: 427-441.
Rizvi, F. (2006). Imagination and the globalisation of educational policy research, Globalisation, Societies and Education, (4)2: 193-205.
Shore, C. S. Wright and D. Però (eds) (2011). Policy Worlds: Anthropology and the Analysis of Contemporary Power, New York and Oxford: Berghahn.
Varenne, H. with J. Koyama (2011). ‘Education, Cultural Production, and Figuring Out What to Do Next.’ In A Companion to the Anthropology of Education, edited by B. A. U. Levinson and M. Pollock, London: Blackwell Publishing: 50-64.

Autor*innen

Sally Anderson (Dänemark)

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