Die Zivilgesellschaft bezieht sich auf ein Netzwerk selbstorganisierter kollektiver Einheiten, wie z.B. öffentliche Vereinigungen und Organisationen, die außerhalb der direkten Kontrolle des Staates operieren und sich auf die freiwilligen Aktionen ihrer Mitglieder stützen. Die Mitgliedschaft geht über intime Beziehungen von Familien und Freunden hinaus, und diese Einheiten sind im Idealfall vom Staat unabhängig und ohne Interesse an wirtschaftlichem Gewinn (Diamond 1994).
Im Bildungsbereich beschreibt die Zivilgesellschaft Aktivitäten an der Basis, die die Umsetzung der Bildungspolitik von Verbänden, NGOs, Institutionen und vielen mehr leiten und überwachen, entweder in Opposition zu oder in Zusammenarbeit mit staatlichen, regionalen und lokalen Entscheidungsträger*innen. Diese Aktivitäten können sich auf die Bereitstellung von Bildungsangeboten oder -reformen, die Verbesserung der Bildungsdienste, die Gewährleistung des universellen Zugangs zu Bildung und Bildungseinrichtungen sowie die Vertretung benachteiligter Gruppen konzentrieren. Das Konzept der Zivilgesellschaft stützt sich auf Visionen einer selbstverwalteten, demokratischen Gesellschaft. Es ist mit den moralischen Prinzipien des Pluralismus, der Toleranz und Gewaltlosigkeit sowie mit den Bürgerrechten der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit verbunden. Befürworter*innen der Zivilgesellschaft sehen darin eine ideale Form des menschlichen Zusammenlebens und Bereiche des gesellschaftlichen Konsenses auf der Grundlage von Vereinbarungen über Normen und Werte bezeichnet. Einige sehen die Zivilgesellschaft als ein politisches Projekt zur Schaffung von Zivilität, sozialem Zusammenhalt, Moral und wirtschaftlicher Stabilität (Armony 2004, Edwards, 2009).
Anthropolog*innen untersuchen Zivilgesellschaft als eine Reihe von Praktiken und Debatten, durch die lokal etablierte Bewegungen an globalen politischen Prozessen teilnehmen. Diese Prozesse umfassen Werte- und Regelsysteme, Institutionen und bürokratische Verfahren sowie verschiedene Formen des individuellen und kollektiven sozialen Handelns (Lashaw, Vannier & Sampson 2017). Das Studium der Zivilgesellschaft in der Anthropologie konzentrierte sich auf freiwillige Vereinigungen im öffentlichen Bereich (Eidson 1990) und in den letzten Jahrzehnten auf Formen politischer Institutionen, die gemeinhin als Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bezeichnet werden (Sampson 2003).
Das Konzept der Zivilgesellschaft hat eine reiche Begriffsgeschichte. Im klassischen griechischen und römischen Denken weist der Begriff auf ein politisch organisiertes Gemeinwesen hin. Im mittelalterlichen Europa beschreibt der Begriff eine Gesellschaft, die um den Vorrang der Religion herum organisiert ist. Im 18. Jahrhundert wurde die Zivilgesellschaft als eine Arena der wirtschaftlichen Beziehungen und Institutionen verstanden. Anschließend wurde im 19. Jahrhundert die Zivilgesellschaft als eine Sphäre freiwilliger Zwischenorganisationen beschrieben, die zwischen dem Staat und dem einzelnen Bürger stehen (Seligman 1992). Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewann die Zivilgesellschaft in der Anthropologie an Bedeutung. In den letzten Jahren der sozialistischen Ära nutzten Dissident*innen in Osteuropa die Zivilgesellschaft, um Entwicklungsdefizite in den postsowjetischen Staaten zu überwinden.
In diesen Zusammenhängen wurde die Zivilgesellschaft vor allem in Opposition zum Staat definiert. Standarddefinitionen beziehen sich auf die gesamte menschliche soziale Organisation zwischen dem Staat und der Familie oder dem Haushalt, während engere Definitionen Märkte und das kommerzielle Leben ausschließen (Layton 2006).
Anthropolog*innen haben untersucht, wie eine Idee, die ihren Ursprung im Europa vor der Aufklärung hat, in außereuropäische Gesellschaften eingeführt wurde und in ihnen wirksam wurde. Die anthropologische Forschung zur Zivilgesellschaft hat dokumentiert, wie und wann die Rhetorik der Zivilgesellschaft im Verhältnis zu anderen modernen Begriffen, wie z.B. Staatsbürgerschaft, herangezogen wird. Sie hat auch untersucht, ob bestimmte lokale Institutionen als die nicht-westlichen Entsprechungen einer freien, toleranten Zivilgesellschaft verstanden werden könnten (Comaroff & Comaroff 1999). Ein großer Teil der Forschung hat sich auf die Untersuchung formaler Nichtregierungsorganisationen und deren Beziehung zu den Begriffen Demokratie und Menschenrechte konzentriert. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass diese neuen Formen der Zivilgesellschaft kritisch zu sehen sind, da sie nicht nur ineffizient sondern das Gegenteil von "zivil" sein können (Elyachar 2005, Lashaw, Vannier & Sampson 2017).
Die Anthropologie hat einen kritischen Ansatz für standardisierte Definitionen der Zivilgesellschaft gewählt. Eine ständige Frage ist, ob ein Konzept, das so eng mit westlichen Modellen der freiwilligen Vereinigung und individuellen Mitgliedschaft verbunden ist, auf andere Teile der Welt verallgemeinert werden kann. Mit diesem Blick untersuchen Anthropolog*innen die Art und Weise, wie zivilgesellschaftliche Akteur*innen versuchen, ihre Rolle zu erfüllen, indem sie globale Themen in ihren lokalen Bemühungen aufgreifen (Hann & Dunn 1996, Lashaw, Vannier & Sampson 2017, Sampson 1996).
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Pädagogik überschneiden sich unter anderem in den Bereichen der Bildungspolitik, -planung und -umsetzung. Als politischer Rahmen zur Beteiligung in Bildungsfragen kann der Begriff der Zivilgesellschaft verschiedene Akteur*innen im Bildungsbereich umfassen, wie z.B. Regierung, Familien, Freiwilligenorganisationen, öffentlich-private Partnerschaften und Kirchen. Dem liegt die Idee zugrunde, dass die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Institutionen und privaten Einrichtungen politische Rahmenbedingungen schaffen kann, die der Diversität der Lernenden Rechnung tragen und öffentlichen Bildungsnutzen für alle erzeugen (Meyer & Boyd 2001). In dieser Perspektive werden bürgerschaftliches Engagement und Zusammenarbeit in Bildungsfragen als notwendige Schritte zur Stärkung der lokalen Demokratie und zur Unterstützung des gleichberechtigten Zugangs zu Bildung für un- oder unterprivilegierte Gruppen angesehen. Oft assoziierte Tätigkeiten sind die ehrenamtliche Arbeit in Schulen, Schüler*innen Nachhilfeunterricht geben, Materialien spenden, bei Verwaltungsfragen helfen und Veranstaltungen und außerschulische Programme organisieren (Reimers 1997, Sullivan 2003).
Die Bildungsanthropologie betrachtet die Zivilgesellschaft als eine dynamische Dimension der Bürgerschaft und weist auf Formen sozialen Handelns und soziale Bewegungen hin. Die Zivilgesellschaft wird oft als ein Raum verstanden, in dem sich unterprivilegierte Gruppen der staatlichen Hegemonie und diskriminierenden Bildungspolitiken widersetzen können.
Transnationale Organisationen führen lokale Bedeutungen und globale Diskurse der Zivilgesellschaft zusammen und setzen diese in Verhandlungen mit Bürger*innen, Staat, Märkten und verschiedenen anderen Gremien und Institutionen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene ein.
Mehtta (2008) untersuchte die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen bei der Verbesserung des Zugangs und der Qualität der Grundschulbildung, inbesondere für einkommensschwache Gruppen, im indischen Bildungssystem. Ihrer Fous lag auf dem Engagement von zivilgesellschaftlichen Organisationen im Bildungsbereich im Bundesstaat Delhi über einen Zeitraum von 20 Jahren. Sie führte 30 Interviews mit Akademiker*innen, Aktivist*innen, Leiter*innen von NGOs und Regierungsbeamt*innen, die im Bildungsbereich tätig sind. Sie untersuchte drei Fälle bildungspolitischer Reformen: 1) das Programm für universelle Grundschulbildung, das sogenannte "Sarva Shiksha Abhiyan" (SSA), 2) das Schulbuch des "State Council for Education and Research Training" (SCERT), 3) sowie das "Mid-Day Meal Scheme", also die Bereitstellung von Mittagessen in der Schule. Anhand dieser drei Fallbeispiele zeigte Mehtta, dass die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen an politischen Prozessen zur Schaffung realistischerer und effektiverer Bildungsdienste beiträgt. Als legitimierte Planer*innen und Anbieter*innen von Bildung waren die zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Lage, den Staat für die Formulierung und Umsetzung der Politik zur Rechenschaft zu ziehen.
Im ersten Fall arbeiteten zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Regierung zusammen, um ein inklusives Bildungsprogramm zu entwerfen, das Kinder, die zuvor von Schulen ausgeschlossen waren, in speziell dafür eingerichtete Lernzentren brachte. Im zweiten Fall arbeiteten zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Regierung zusammen, um neue Schulbücher zu entwerfen. Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen und das Engagement von Akademiker*innen führte zu leichter verständlichen Schulbüchern mit relevanteren und angemesseneren Inhalten. Im dritten Fall spielten zivilgesellschaftliche Organisationen eine entscheidende Rolle bei der Konzeption, Umsetzung und Überwachung eines von der Regierung geschaffenen Mittagsverpflegungsprogramms, das mehr Kinder in das Bildungssystem einbeziehen sollte. Hier wurden NGOs zu den Hauptproduzent*innen und Verteiler*innen von Schulmahlzeiten.
In einer anderen Studie untersuchte Astiz (2012) die politischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements im Bildungswesen zwischen 1998 und 2001 in zwei Distrikten im Großraum Buenos Aires. La Matanza war ein relativ niedriger sozioökonomischer Bezirk und Vicente L'opez ein Bezirk der Mittel- und Oberschicht. Empirische Daten wurden durch eine Umfrage bei Organisationen der Zivilgesellschaft und 25 Interviews mit Lehrer*innen, Bildungsbeamt*innen, nationalen, provinziellen und lokalen Verwaltungsbeamt*innen, lokalen Parteivertreter*innen und Gemeindevorsteher*innen gesammelt. Die Studie, die einen kritischen Ansatz verfolgt, konzentrierte sich auf lokale Faktoren, die das Wesen der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft prägten. Weiterhin betrachtete die Studie die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Distrikten, die im Engagement bon zivilgesellschaftlichen Organisationen im Bildungsbereich sichtbar werden.
Die Studie kam zu dem Schluss, dass die Präsenz aktiver freiwilliger Organisationen in den untersuchten Distrikten nicht notwendigerweise den Grad ihrer Beteiligung am Bildungswesen erhöht. Entweder durch die lokalen klientelistischen Netzwerke (in La Matanza) oder durch die Führung des Bürgermeisters beim Aufbau staatlich-gesellschaftlicher Beziehungen (in Vicente L'opez) eigneten sich die staatlichen Institutionen öffentliche Räume an, die andernfalls von Freiwilligenverbänden besetzt wordensind. Dies geschieht mit der Absicht, die politischen Bestrebungen der jeweiligen Eliten zu erfüllen. Auf diese Weise wurde bürgerschaftliches Engagement zu einem Mittel für die Machtkämpfe um politisches Kapital und die Reduzierung der Beteiligung der Zivilgesellschaft auf eine begrenzte undunzusammenhängende Dienstleistungen mit wenig realen Konsequenzen.
NGO´s, Demokratie, Politik, Reformen, Schulsystem, Inklusion, Vulnerable Gruppen,
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Astiz, M., F. (2012). The Policy Challenges of Civil Society Involvement in Education: Lessons from Two Districts in Greater Buenos Aires, Argentina (1998–2001). The Latin Americanist, 56 (2). (63-91).
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Ioannis Manos (Griechenland)
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